elisabeth niggemeyer, fotografin, berlin

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Category: presse

  • Protected: aus dem archiv “gemordete”

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  • Manfred Sack, Unwirtliche Gemütlichkeit, Die Zeit, okt1985

    Manfred Sack, Unwirtliche Gemütlichkeit, Die Zeit, okt1985

    Die Stadt verliert ihr Elixier: das Städtische – nun erst recht

    Die Zeit, 11.Oktober 1985

    Unwirtliche Gemütlichkeit

    Der „gemordeten Stadt“ zweiter Teil- mit Bildern, Dokumenten und fünf Essays / Von Manfred Sack

    Zwanzig Jahre danach haben sie nun nachgesehen, was aus der „gemordeten Stadt“ geworden ist, die sie Anfang der sechziger Jahre mit scharfem, ja seherischem Blick beobachtet und publik gemacht haben. Die drei Autoren – die Photographin Elisabeth Niggemeyer sowie die Journalistin Gina Angress und Wolf Jobst Siedler — haben damals mächtige Furore gemacht mit ihrem frechen, enthüllenden, anklagenden Buch, dessen Titel sich bald selbständig gemacht hat und ein beliebter Slogan geworden ist, unter dessen Mantel vielerlei Unmut Platz hatte.

    Die Zeit war reif dafür – und begierig darauf. Kurz bevor „Die gemordete Stadt“ erschien, hatte die Journalistin Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ beschrieben, wenig später hatte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ beklagt. Rundum: Irrtümer, enttäuschte Hoffnungen, mißverstandene Maximen, phantasieloses Denken, undifferenziertes Handeln, ästhetische Blindheit — die mißbrauchte Moderne und die vom Verkehr beherrschte Stadt waren in einem Bild des Jammers aufgegangen.

    Und jetzt? Hat sich „die gemordete Stadt“ wieder aufgerappelt? Kein Zweifel, ein bißchen. Haben die Stadtpolitiker, die Planer, die Architekten ihre Irrtümer erkannt? Gewiß, nur sind ihnen beim Korrigieren der alten Fehler neue unterlaufen. Hat die Stadt sich wenigstens wieder ein wenig schön gemacht? Und wie, scheußlich schön. Hat sich also doch erwas geändert – womöglich zum Guten gewendet?

    Da jemand den hübschen Einfall gehabt hat, dem Vorwort des neuen Buches von 1985 das des alten von 1964 voranzusetzen, bekommt man schnell die erste Antwort. Vor zwanzig Jahren meldete Wolf Jobst Siedler das „Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte“. Nun, nach dem neuen Rundgang durch dieselbe Stadt, resümiert er, eher nüchtern als resigniert: „Die Sehnsucht gilt heute dem Städtischen, und der Begriff ist zu einem Losungswort geworden, das sich alle Parteien zurufen.“ Es scheint, als empfinde die Stadt immerhin den Mangel. Jedoch gehe dabei, während er korrigiert wird, „nun noch einmal verloren, was sie uns kostbar machte – jene Atmosphäre der Metropolen, die auch einen besonderen Menschentypus hervorgebracht hatten: den Städter“.

    Das Buch über „Die gemordete Stadt“ führte einst die gräßlichen Bemühungen vor Augen, „mit neuen Mitteln“ – denen der Moderne – „alte Wohnfiguren“ zu verwirklichen. In dem neuen Buch ist zu betrachten und zu lesen, wie die Stadt der Kritik zu begegnen versuchte: mit einer offensichtlich verquälten Idyllik; in ihrer Hilflosigkeit sucht sie am liebsten Halt im Gestrigen, im Hiıstorischen, genauer in der Sentimentalität. Da sie ihren Verbesserungsvorsatz, um seiner sicher zu sein, auch zu kodifizieren versucht hat, trifft der Titel des neuen Buches das Thema sehr genau:

    Gina Angress, Elisabeth Niggemeyerer: „Die verordnete Gemütlichkeit – Der gemordeten Stadt II.Teil“, mit Essays von Wolf Jobst Siedler; Quadriga Verlag J. Severin, Berlin, 1985; 224 S., 576 Abb., Ln. 49,80 DM.

    Freilich eröffnen sich der treffliche Titel und die Essenz dieses sich etwas wirr darbietenden Buches nicht schon dem, der die Bilder betrachtet, sondern erst dem, der es liest. Denn das Besondere sind, wie beim vorangegangenen, seine drei Autoren, ihre Professionen, vor allem ihre Temperamente. Die Photos, Hunderte von Photos, sind das Fundament, selbstverständlich, das Anschauungsmaterial, faszinierend durch die scheinbar unendliche Menge ihrer abstoßenden, wunderlichen, häßlichen, possierlichen, „unglaublichen“ Sujers. Das ganze Arsenal, beinahe wörtlich: die ganze Waffenkammer ist darin ausgebreitet, aus der die Stadt ihr Exterieur zu ordnen, aber auch zu verschönern versucht. Es ist das in Wahrheit immobile Straßen-„Mobiliar“, dem zur Zeit unter dem scheinbar unverdächtigen Namen urban design in Frankfurt am Main die erste, eine ganze eigene Messe eingerichtet worden ist.

    Das Stadtinventar begreift alles in sich, was den Gebrauch der Stadt durch ihre Bewohner reguliert und reglementiert, aber eben auch schmücken, also ästhetischen Gewinn erhoffen lassen soll. Man staunt, was es zum Beispiel allein an Pollern gibt, kurze dicke Stümpfe, mächtige Kugeln, kriechende Halbkugeln, kunststoffüberzogene Pfeiler, dekorierte, der Historie nachgebildete Rohre, Absperrbügel, Gitter – Gerätschaften jedenfalls, deren wahre Qualität durch die amtliche Erläuterung formuliert wird: „fahrzeugabweisende Elemente zur Eindämmung und Verhinderung illegaler Parkvorgänge“. Lauter Pollervokabeln. Es rechnen auch übel in den wunderlichsten Formen dazu, Flaschen-Container, Mülleimer, Papierkörbe, Bänke, Straßenschilder und vieles andere.

    Nicht zuletzt gehören Laternen dazu. Schwerlich zu glauben, aber wahr: Dort zum Beispiel, wo die Hardenbergstraße in den Ernst-Reuter-Platz mündet, ließ man, um das moderne Arrangement nicht zu stören, die unmodernen „Hardenbergleuchten” verschrotten, haushohe, originell gewundene Laternen von zweifellos großstädtischem Aplomb. Nun, da Berlin sich auf seine 750-Jahr-Feier vorbereitet, wird der Kurfürstendamm damit ausgerüstet, das Stück zu 32.000 Mark nachgebaut, jedes so teuer wie ein großes Auto. Und nicht zu zählen allein die Versuche mit der „Schinkel-Leuchte“ in vielen Größen und Entstellungen. Nun steht sie sogar im Märkischen Viertel, die Moderne zu versüßen – lauter Hilfsgesuche an die Geschichte.

    Die ästhetischen Schauer fühlt man indessen nicht nur beim Betrachten der Bilder (und bei der Begegnung mit einem wilden, die Häßlichkeit und das Durcheinander der Stadt offenbar mit einem dies auch noch verstärkenden Punk-Layout, das der Qualität der Photographien arg zusetzt). Man empfindet sie vor allem bei den ausgesuchten, gescheit zusammengestellten Texten, die die Bilder pointieren und ihnen oft erst ihre ganze Zeugniskraft entlocken. Man ahnt eine diebische Lust beim Aufstöbern und beim Plazieren. Es sind Kommentare, die ihre Meinung nicht in wütenden oder höhnischen Formulierungen bekanntgeben, sondern in Tatsachen, in Zitaten aus Gesetzen, Vorschriften, Richtlinien, Proklamationen, aus schrecklich gut gemeinten Empfehlungen für die Denkmalpflege, der Stadtgestaltung, für Architektur, Begrünung – oft mächtig in die Irre gehende Hoffnungen.

    Manchmal erzählt Gina Angress, der diese Schatzgräberei in Gesetz- und Ärchivblättern zu danken ist, einfach das, was 1964 war und bis heute geschehen ist. Manchmal nennt sie auch nur Zahlen, Mengen, Preise, auch Aktionen und Katastrophen. Sie tut es in einer konsequent trockenen, vor Sachlichkeit beinahe knarrenden Sprache, in der Adjektive nur gebraucht werden, um etwas genauer zu beschreiben, nicht um etwas zu bewerten. Eben dies eröffnet dem Leser sein eigenes Abenteuer bei der Lektüre dieses Bilderbuches.

    Wolf Jobst Siedlers Essays sind darin kleine Orchideenbeete, intellektuelle Zwischenspiele, in denen der Leser versuchen darf, seine Verwirrung zu ordnen: originell gedacht und manchmal zum Widerspruch reizend, elegant geschrieben und verführerisch formuliert. Mitunter merkt man nicht gleich, dass man gar nicht gerade, sondern über raffiniert verschlungene Wege mitbewegt wird durch diese fünf Essays – und oft ganz woanders hin.

    Sie sind mit oder ohne Umschweife der lange Abgesang auf „die Moderne“ und alles das, was ihre unbegabten Exekuteure damit angerichtet haben: eine Epoche, sagt er, an ihrem Ende. „Die postmoderne Anstrengung in den Städten stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will.“ Deprimierend, dieses „in die Irre gehende Verlangen, mit dem die Stadt vergessen machen will, was die Stadt ist“, mehr noch als vor zwanzig Jahren: „Die Herrichtung von Schonbezirken, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, der Verlust allen Sinns für das Angemessene, was zu Kandelabern in Trabantenstädten und Pflanzbeeten auf dem Boulevard geführt hat, macht darauf aufmerksam, dass die Stadt heute so wenig wie gestern mit sich ins Reine kommen kann.“ Diesmal aber weist der Essayist — einsichtiger als vor zwanzig Jahren und ausdrücklicher — darauf hin, dass das Verschwinden des besonderen Menschentypus, des Städters, „aber vielleicht weniger die Schuld der Baubehörden als die der Epoche“ sei, „und so ließe sich denn sagen, dass die Irrtümer der Planer die Wahrheiten des Zeitgeistes sind“. Wer weiß, wie wir in den nächsten zwanzig Jahren mit der Stadt zurechtkommen werden.


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  • Friedrich Luft, SZ,1955

    Friedrich Luft, SZ,1955

    Friedrich Luft, Süddeutsche Zeitung, 1. Mai 1955

    Reverenz vor München

    das münchner jalır. Ein Photobuch mit 97 Aufnahmen von Elisabeth Niggemeyer und Texten von Walter Foitzick. Süddeutscher Verlag. München. 112 Seiten, kart. 18.80 DM, Leinen 21.50 DM.

    In jedem guten Photo ist vielmehr als der Zufall verborgen. Gewiß, Glück muß bei der Sache sein. Aber das kommt auch hier. am Ende nur immer dem Tüchtigen zu Hilfe. Die künstlerische Photogrphie ist ein Produkt aus Geduld, Souveränität im Technischen, Augenlust, Wille zur Komposition, aus Ergriffenheit vor dem Gegenstand und Liebe zum Objekt.

    In früheren Zeiten standen die Maler auf unseren Plätzen und registrierten pinselnd das Leben. Das tun die, auf die es heute ankäme, so nicht mehr. Die subjektive Wiedergabe des Gegenständlichen ist eine künstlerische Provinz, von der sich die Photographen viel erobert haben. Unsere Städteschilderer äugen durch die Linse.

    Dabei sind der Knipser Myriaden. Photographen ernsthaften Kalibers gehen heute in Europa auf die Finger zweier Hände. Mit diesen 100 erstaunlichen und sehr unterhaltsamen Belichtungen der urbanen, krausen, frommen, frivolen, angebehaglichen, nervösen und geruhsamen Stadt München stellt sich die blutjunge Elisabeth Niggemeyer unverdrossen dieser raren Spitzengruppe bei. Ihr eignet eine fröhliche Wollust des Schauens. Sie schwelgt zärtlich im Sichtbaren. Allein, wie sie zwei Münchner in der Tram optisch überlistet und durch das Fenster noch einen weichen Ausblick auf die Straße gewinnt, ist meisterlich und enthält unversehens beides ganz: die Leute und die Stadt.

    Oder wie sie dem Stachus von oben beikommt: eine Katze spielt am Fensterbrett; unten wurlt der Verkehr und tut sich wichtig; Träumerei und Betrieb: München. — Oder ein Gartenlokal am Starnberger See. Nur gedeckte Tische, Nebel, Wasser, verhängte Berge, zwei einsame Männer auf einem feuchten Steg. Das ist der Herbst. Und zu sagen, daß Monet oder Sisley das auch nicht viel anders eingefangen hätten, wäre falsche Schmeichelei. Dies ist immer Photo mit den legitimen Mitteln des Photos. Nur staunt man, wie viele Nuancen des Wohlgefälligen diese neue Photographin der Sache München abgewinnt: Melancholie ist da, Humor, eine Art sarkastischer Freude am Kontrast, eine zierliche Hingabe an die Lust der Linien und Konturen und immer eine ganz ungehemmte Freude am Schauen. Diese Elisabeth Niggemeyer photographiert nie auf Teufel komm raus „originell“. Aber sie sieht original. Und das macht ihre 100 verlockenden Bilder so frisch und so heiter, so anmutig, so treffend.

    Sie hat Glück gehabt. Derart wohlausgewogen, modern, handlich und kontrastreich editiert wurde lange kein Bildband wie der ihre. Und wenn Walter Foitzick jeweils mit ein paar feuilletonistischen Sätzen die Münchner Jahreszeiten für sie, sozusagen, einläutet, hat er es fast schwer. Diese Bilder sprechen ihre eigene Sprache schon so sehr beredt.

    Reverenz vor München, daß es so „photogen“ ist! Aber alle Hochachtung auch vor dieser jungen Photographin, die es so witzig und würzig, so wohlgefällig und merk-würdig neu entdeckt hat!

    Friedrich Luft

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  • Lernen, bevor man zur Schule geht

    Tages Anzeiger Magazin, Nr.20, 20.7.1970, Jürgen Zimmer

  • Zum fünfzigjährigen Erscheinen eines Klassikers der Städtebau-Literatur

    Zum fünfzigjährigen Erscheinen eines Klassikers der Städtebau-Literatur

    Steffen de Rudder,
    “Die gemordete Stadt” Zum fünfzigjährigen Erscheinen eines Klassikers der Städtebau-Literatur
    Forum Stadt 2 /2014 / Forum Stadt Verlag

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  • presse: ich und die welt

  • Gefällt dir diese Familie?

    Für Kinder von neun Jahren an ist ein »Photo-Lesebuch« mit Berichten über Normalfamilien, über Wochenend- und Schüler-Ehen, über mutter- und elternlose Haushalte bestimmt. 04.09.1977, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 37/1977


    Ulrike ist 20 und macht in drei Monaten das Abitur. Ihre Tochter Lena ist acht Wochen alt. Vater Lutz, 24, über die Familie mit der Abiturientin als Ehefrau und dem Säugling: »Es nervt mich schon manchmal, ich verberge es auch nicht. Es passiert was zwischen uns dreien, Aggressionen gibt es, schon ganz schöne. Aber ich hab das Gefühl, daß es in Ordnung ist.«
    Dieser Schüler-Ehe ist einer von 16 »Berichten aus dem Familienalltag« gewidmet, die Antoinette Becker schrieb und Elisabeth Niggemeyer photographierte. Sie sind als »Photo-Lesebuch« erschienen — für Kinder von neun Jahren an*:

    Antoinette Becker/Elisabeth Niggemeyer: »Meine Familie — Deine Familie. Berichte aus dem Familienalltag.« Otto Maier Verlag, Ravensburg; 172 Seiten; 25 Mark.

    Weitere Beispiele:
    Familie 7: Sülcran, 13, Saime, 16, Oshan, 14, Burhan, 2, und Nussan (vier Monate) wohnen, essen und schlafen mit ihren Eltern in einem Raum. »In der Ecke läuft der Fernseher, aber ohne Ton, zu leiser türkischer Musik von einem Plattenspieler.«
    Das Schlafzimmer der Eltern wird nur einmal in der Woche geheizt, täglich wäre es zu teuer. Neue Möbel sind da, werden aber nicht benutzt, Plastikhüllen schützen sie gegen Staub. »Alles muß neu sein, wenn Familie Küpeli einmal in die Türkei zurückkehrt.«
    Die Mädchen dürfen nicht zu deutschen Freundinnen nach Haus, nicht ins Kino, nicht mal allein vor die Tür. Die Mutter: »Mädchen gehören nicht auf die Straße.«
    Familie 6: Der Fernfahrer kommt am Freitagabend nach Haus. Dann muß Klaus, 11, aus dem Schlafzimmer ausziehen. Erst am Montagabend ist für ihn »alles wieder in Ordnung. Da ist Papa längst auf den Fernstraßen, und Klaus nimmt seinen Steiff-Hund, seine Taschenlampe, sein Briefmarkenalbum und seinen Wecker in Mamas Zimmer und legt seine Schätze auf Papas Nachttisch«.
    Familie 12: Ralf, 9, zu Andreas, 6: »Ich bin aus Mutters Bauch gekommen. Du nicht, du bist ein Pflegekind.« Ralf irrt. Auch er ist, wie die fünf anderen, ein Pflegekind des Taxifahrers Wilinga und seiner Frau. Sie spricht von »Großpflegestelle«, halbamtlich heißt es »Ersatzfamilie«. Gelegentlich kommen die Väter und/oder Mütter zu Besuch.
    Familie 13: Seßhaft in einem Bungalow und einem halben Bauernhaus sind Roland, 10, Petra, 13, Jessica, 9, und Claudia, 15, mit ihren Eltern.
    In jeder Hinsicht, so scheint es, lebt diese Familie »in guten Verhältnissen«. Eines ihrer Alltags-Probleme: »Wer bewegt das Pferd heute?« Tochter Petra über die Freizeit: »Wir machen sehr viel. Wir leben richtig im Streß mit unseren Hobbys.«
    Familie 15: Nur in Berlin zieht der kleine Zirkus Safari umher, trotzdem kennen die Kinder des Direktors schon viele Schulen. Dort »begegnet ihnen eine sehr fremde Welt«. Daß der Preis für Heu pro Zentner von 43 auf 46 Mark gestiegen ist, weiß Manuel, 9. Aber es dauert seine Zeit, bis bei den Schulaufgaben 17 und 5 addiert sind, »und 5 und 9 ist zuerst 13 und dann doch 14«.
    Die Bilder von Elisabeth Niggemeyer, die vor acht Jahren zusammen mit der Textautorin Nancy Hoenisch und dem Psychologen Jürgen Zimmer einen Bestseller über »Vorschulkinder« herausbrachte, sind mehr als nur Illustration. Der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig im Vorwort: »Die Bilder sagen vor allem: daß es wahre Geschichten sind, keine Erfindungen eines Sozialwissenschaftlers mit pädagogischem Ehrgeiz.«
    In der einen Familie fehlt die Mutter, in der anderen der Vater, in wieder einer anderen ersetzt die Großmutter die Eltern. Mal hat ein Kind keine, mal zu viele Geschwister.
    »Wir bleiben lieber für uns«, ist das Motto einer dreiköpfigen Familie. Der Kontrast: Zu einer Wohngemeinschaft hat sich ein Ärzte-Ehepaar mit einem anderen Paar (Architekt mit Studentin) und einem Junggesellen vereint, der nicht selten die Kinder beider Eltern wartet. Und wenn die beiden Frauen weg sind, teilen sich die drei Männer die Hausarbeit.
    Berichtet wird nicht nur, daß hier das Essen aus der gemeinsamen Kasse bezahlt wird und daß abends jeder die Sorgen des anderen teilt: »Probleme gehen immer alle an.«
    Es wird auch geschildert, daß die Gemeinschaft enger ist, als viele Bürger-Kinder sich vorstellen:
    Jeder darf in alle Zimmer, wenn die Türen offen sind. Wenn sie zu sind, dann wissen Jenny und die Erwachsenen: Hier darf man jetzt nicht hinein; hier ist einer drin, der alleine sein will. Oder wenn jemand bei ihm ist, heißt das: Die wollen nicht gestört werden! Alle halten sich an diese Spielregel.
    Oder gar:
    Es gibt nur ein Badezimmer. Die Gemeinschaft hat beschlossen, daß eben alle gleichzeitig ins Badezimmer dürfen. Um sieben rasiert sich Paul, Jenny hockt auf dem Topf, ihre Mutter sitzt auf dem Klo, Jochen duscht sich, und Erika steht in der Badewanne.
    Überwiegend stehen in dem Buch Geschichten ohne dramatische Ereignisse. Nur aus einer Familie versucht der Sohn zu flüchten. In einer anderen stirbt die Oma, die als Eltern-Ersatz unentbehrlich schien.
    Und das Heimkind Manuela, 7, scheitert bei zwei Versuchen, in eine Familie überzuwechseln. Beim ersten wollten die Eltern es adoptieren, aber Tochter Katharina, 8, hintertrieb es: »Sie weiß, daß dieses Heimkind vielleicht immer zur Familie gehören wird. Damit ist sie aber ganz und gar nicht einverstanden. Doch das hat sie niemandem gesagt.« Sie zeigt es:
    Katharina führt Manuela ihre Spielsachen vor. Manuela ist entzückt, besonders von einer großen Puppe.
    »Das ist meine Puppe«, sagt Katharina und ergreift sie. »Du kannst die andere haben.«
    Beide Mädchen sitzen wortlos, jedes in einer Ecke vom Sofa.
    »Schau mal«, sagt plötzlich Katharina, »schau mal dieses Kettchen an, gefällt es dir?«
    Manuela nickt stumm, sie würde das Kettchen sehr gerne haben. »Du bekommst es«, hier zögert Katharina, »in einem Jahr, wenn du brav bist.
    Manuela schaut auf den Boden. »Komm, ich zeig dir den Kaufladen.« Manuela rührt nichts an, sie schaut vor sich hin, untätig und fremd.
    Zumeist ist es der Alltag, der zu Problemen und Konflikten führt, im Bungalow wie im Zirkuswagen — in der einen Familie, weil die Mutter nachts ins Krankenhaus zu Patienten muß (Sohn Oliver: »Warum schlafen sie denn nicht?”), in einer anderen, weil die siebenjährige Tochter nach der Ehescheidung mit dem Vater lebt und an der Mutter hängt.
    Die Frage an die Eltern, die dieses Buch aufwirft, stellt Hartmut von Hentig in seinem Vorwort: »Wann soll ein Kind, ein aufwachsender Mensch … erfahren, welche Alternativen es zu seiner Familie gibt? Wann ist es zu spät? Wann zu früh?«
    Den meisten Berichten schließen sich Fragen an, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen unter den Lesern beschäftigen sollen — auch in der Schule, wie der Verlag erwartet.
    Schon weil es Lehrern freisteht, das Buch zur Klassenlektüre zu machen, bringt es für allzu ängstliche bundesdeutsche Eltern ein neues Thema: ob nicht wie die Sexualerziehung in der Schule auch diese offene Familien-Aufklärung zu weit geht. Typische Fragen:

    • Zum Bericht über Abiturientin als Mutter: »Warum war Ulrike nicht sicher, daß sie als schwangere, verheiratete Frau in der Schule bleiben dürfe? Kannst du es verstehen? Findest du, daß sie nicht mehr in die Schule gehen sollte?«
    • Über das Mädchen Astrid, das mit seinem Vater zusammenlebt: »Kannst du verstehen, warum sie manchmal zum Vater böse ist, wenn sie von der Mutter zurückkommt?«
    • Zu einem Bericht über, eine Familie, in der »jeder seine eigenen Wege geht, um woanders etwas Glück zu finden”: »Kannst du dir auch vorstellen, daß ein Jugendlicher sich von der Familie abzulösen versucht, um sich selbst und seinen Weg zu finden?«
    • Zum Bericht über eine unverheiratete Mutter und ihre Tochter: »Was denkst du über das Heiraten — auf dem Standesamt, in der Kirche?«

    Am Bericht über die Wohngemeinschaft sollen die minderjährigen Leser lernen, »was ein Vorurteil ist”:
    Wenn du jemanden oder etwas beurteilst und dir eine Meinung bildest, bevor du geprüft hast, ob dieses Urteil mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
    Ober die Wohngemeinschaften gibt es viele Vorurteile, weil hier Menschen eine Lebensform gewählt haben, die anders ist, als wir es gewöhnt sind. Sicher gibt es unordentliche und unerfreuliche Wohngemeinschaften. Aber es gibt auch solche Familien.
    Diese Wohngemeinschaft hier findet, daß sie das Leben gemeinsam besser bewältigt und daß ihre Kinder mehr mit den Problemen unserer Welt vertraut werden: zum Beispiel sich mit anderen Menschen solidarisch zu fühlen, Verantwortung für sie zu tragen, ihre Bedürfnisse zu kennen und mit ihnen zu teilen.
    Was gefällt dir an dieser Wohngemeinschaft nicht?
    Am stärksten werden viele Kinder die Fragen zur »Familie in guten Verhältnissen« auf sich selbst beziehen. Denn streicht man zweiten Wohnsitz, Reitpferd und Tennis, so wird sich gar manche Familie in diesem Bericht wiedererkennen. Fragen, die ihm folgen:
    »Gefällt dir diese Familie? Ist das eine Lebensform, die du allen Menschen wünschen würdest? Findest du, daß diese Kinder wirklich in einem Streß leben? Fehlt dir etwas in diesem Tageslauf?«


    aus:
    https://www.spiegel.de/politik/gefaellt-dir-diese-familie-a-118449f8-0002-0001-0000-000040831438

  • AUSWAHL

    Wolf Jobst Siedler / Elisabeth Niggemeyer: »Die gemordete Stadt«.

    17.03.1964, 13.00 Uhr• aus DER SPIEGEL 12/1964

    Texter und Photographin verklären am Beispiel von Berlin den Charme von Großstadt-Hinterhöfen und Gründerzeit-Fassaden und verspotten die tristen Resultate moderner Stadtplanung. In der witzigen, aber auch selbstironischen Bilderbuch-Elegie auf den durch »Sanierung« und »Entballung« bewirkten Verlust an Urbanität kommen alte Bäume, Kneipen und Laternen und sogar ein »vierständiges, gußeisernes Pissoir« zu Ehren. (Herbig; 192 Seiten; 19,80 Mark.)

    https://www.spiegel.de/kultur/wolf-jobst-siedler-elisabeth-niggemeyer-die-gemordete-stadt-a-eee34f89-0002-0001-0000-000046163543

  • Die Zerschmückung der Städte

    Die Zerschmückung der Städte

    *

    01.12.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 49/1985

    Sie kosten Milliarden und ärgern Millionen, die häßlichen Poller aus Beton oder Stahl. Poller – als stabile Pfähle zur Befestigung von Schiffstauen waren sie erfunden worden. Nun sind sie versteinert, auch schon im Sprachbestand des Duden: »Markierungsklötze für den Straßenverkehr«.

    Im Bürodeutsch von Tiefbauämtern und Verkehrsbehörden heißen sie »fahrzeugabweisende Elemente zur Eindämmung und Verhinderung illegaler Parkvorgänge« – und in demselben Stil verschandeln sie auch die Zentren deutscher Städte. Wo immer ein Platz neu gestaltet, ein Wohngebiet abgeschottet oder ein Fußweg geschützt werden soll, rücken Baukolonnen an, um die unförmigen Stolpersteine zu installieren.

    Die Sperrklötze, wahlweise rund, als Halbkugel oder in Säulenform lieferbar (aktueller Bestseller ist der postmoderne »Aluminium-Pflock im Nostalgie-Look”), sollen, wie ein Hersteller verspricht, die »Ortskerne attraktiver und menschlicher machen«.

    Bürger hingegen, die sich an den robusten Hindernissen die Knie gestoßen oder das Autoblech verbeult haben, schimpfen über die greulichen Produkte des Beton-Zeitalters – am schlimmsten ist die Beleidigung fürs Auge.

    Die Unbeholfenheit der Behörden im Umgang mit Pilz-, Hut-, Sitz- und Bismarck-Pollern wird von Gina Angress und Elisabeth Niggemeyer in einem Bildband dokumentiert: »Die verordnete Gemütlichkeit« (Quadriga Verlag J. Severin, Berlin; 224 Seiten; 49,80 Mark). Am Beispiel Berlins belegen die Autorinnen mit einer »Fülle von Ärgerlichkeiten« die abschreckende Straßensperren-Architektur, vom sandgestrahlten Pfosten mit Stahlarmierung bis zur Blumenwanne aus Waschbeton.

    Die »aufwendige Zerschmückung ihrer Städte«, fordern die Autorinnen, sollten die Bewohner nicht einfach gedankenlos hinnehmen, sondern »abräumen lassen, worüber sie stolpern«.

    https://www.spiegel.de/kultur/die-zerschmueckung-der-staedte-a-fe2a6d7b-0002-0001-0000-000013515043

  • presse: verordnete gemütlichkeit


    Süddeutsche Zeitung Nr.194, 24.8.1985, Lore Ditzen, Scheußliche neue Schönheit

    Zitty Nr.21/1985, Die verordnete Gemütlichkeit, Der gemordeten Stadt II.Teil

    Die Zeit, 11.10.1985, Unwirtliche Gemütlichkeit, Der “gemordeten Stadt” zweiter Teil, Manfred Sack

    Sender Freies Berlin, Buchzeit, 15.10.1985, Dieter Hoffmann-Axthelm

    Süddeutsche Zeitung Nr.253, 3.11.1985, P.C.Mayer-Tasch, Die kleinen Ungeheuer


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    Spiegel 14/1985, W.J.Siedler, Vom Boulevard zur Spielstraße

    Spiegel 49/1985, Die Zerschmückung der Städte

  • Vom Boulevard zur Spielstraße

    Wolf Jobst Siedler über das Ende der bürgerlichen Stadt Der Verleger, Essayist und Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, 59, erregte 1964 mit seinem architekturkritischen Buch »Die gemordete Stadt« Aufsehen. Ende April erscheint als Fortschreibung des Themas das Buch »Die gemütliche Stadt«. *

    31.03.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 14/1985

    Je weiter sich das Jahrhundert seinem Ende nähert, desto zweifelhafter wird es, ob es nicht das vergangene war, das als das eigentlich städtische in die Geschichte eingehen wird. Damit ist nicht die Massenhaftigkeit der zivilisatorischen Gehäuse gemeint; in diesem Betracht hat die Epoche ein weiteres Wachstum der Ballungen gebracht, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Vielmehr wuchern die steinernen Agglomerationen ins Maßlose, sprengen im Falle von London und Paris die Zehn-Millionen-Grenze, greifen in der Dritten Welt ins nicht mehr Faßbare aus. Längst haben Mexico-Stadt und Kairo mehr Einwohner, als sie das siegreiche Preußen nach den napoleonischen Kriegen besaß oder das Mutterland jenes Empire, das große Teile der Welt beherrschte.

    In diesem Sinne zieht die städtische Massenzivilisation unaufhaltsam herauf und bringt das zum Ende, was als Gegensatz von Land und Stadt so lange die Geschichte akzentuiert hat. Diese Verstädterung der Welt war der Schrecken der faschistischen Revolte, die in so vieler Hinsicht eine Protestbewegung war, und das Festhalten-Wollen des Alten stand ja auch hinter der Modernität der deutschen Gewaltherrschaft, die die Dinge so ungeheuer beschleunigte, indem sie die Zeit anzuhalten suchte. Hitlers Versicherung, er werde die Verwandlung ganz Deutschlands in ein einziges Ruhrgebiet »mit ein bißchen Landschaft zwischendurch« verhindern, macht die Stimmungen deutlich, denen er antwortete und die er radikalisierte.

    Der Rückgriff des Regimes auf Uraltes, das strohgedeckte Bauernhaus, das durch eine Senkung der Brandprämie gefördert wurde, die Ordensburg, deren Quaderwelt sich selbst die Schinderstätten des Regimes in Mauthausen anglichen, das romantische Verbot oberirdischer Elektrizitätsleitungen in den geplanten Wehrbauern-Siedlungen des eroberten Ostens – in solchen Rückwendungen wird deutlich, auf welche Affekte die erste technisch instrumentierte Diktatur zurückging.

    Diese Utopien der Modernitätsverweigerung waren die Replik auf die Utopien der Moderne. Die Entwürfe der Zukunft, die seit der Jahrhundertwende die Herzen und Hirne der Avantgarde bewegten und sich in den Phantasmagorien der Architekten ebenso ausdrückten wie in den Träumen der Expressionisten, wollten die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium der Technik, das auf die Natur nicht mehr angewiesen ist.

    In der Imagination von schwimmenden Städten, Siedlungen auf dem Grund des Meeres und gläsernen Überdachungen der Alpen mischen sich höchste Rationalität mit verträumtester Poesie. Dem entsprechen die gezeichneten Hochhaus-Reihungen, zwischen denen sich in Röhren der Verkehr bewegt, wobei gestaffelte Ebenen dafür sorgen, daß sich die verschiedenen Fortbewegungsarten nicht begegnen. Das sind nicht geisterhafte Welten, wie sie die Phantasie hervorbringt, die sich durch ungeahnte technische Möglichkeiten beflügelt sieht und den Turmbau zu Babel aus dem Mythos in die Realität holen will.

    Solche Träume sind auf den ersten Blick der Gegenwurf der Stadt gegen das Land; endlich nutzt der neue Mensch die Chance, die Stadt auf ihren eigenen Begriff zu bringen. Der Lärm des Verkehrs, der Staub der Straßen, das Gift der Gase liegt tief drunten; hoch oben in gleißender Sonne sitzen leichte Geschlechter und überwinden das Gestänge, das ihre eigene Hervorbringung ist. Die Zikkurat von Babylon und die hängenden Gärten der Semiramis sollen Wahrheit werden, das Überirdische sich ins Irdische verwandeln. Das Bauen des zwanzigsten Jahrhunderts hat immer dies im Auge gehabt, wie erdbeladen sein Tun auch war.

    Aber die strahlenden Gebilde am Lake Shore Drive Chicagos und die müden Großplattenbauten von Marzahn träumen sich gleicherweise aus dem heraus, was fünf Jahrtausende Stadt war und was im vergangenen Jahrhundert mit der Belle Epoque den Schmelz des Abschieds hatte – Roms Corso wie Wiens Ringstraße. Kein stockendes Gedränge mehr, kein Hin- und Herschieben der Menge, die Lust auf sich selber hat, nirgendwo mehr der großstädtische Genuß des Zweckmäßigen und Nutzlosen.

    An der Neige des Jahrhunderts hat diese Welt sich selber den Rücken gekehrt, und auf einmal treten die Gartenstädte Riemerschmids, Tessenows und Schultze-Naumburgs neben die Gebirge von La Defense und vom Märkischen Viertel. Der widerstädtische Geist prägt sich nur in verschiedener Form aus, und aus dieser Perspektive steht der Erbbauernhof neben dem Wolkenturm, beide gleich fern dem Lebensgefühl des Städters. Tatsächlich fühlt er sich hier wie da verloren, während er sich einst an Londons Piccadilly und dem Rond-Point von Paris ebenso begegnete wie an der Kreuzung von Leipziger und Friedrichstraße, drei der bevölkertsten Plätze Europas von 1910.

    Aber städtische Anlagen schaffen kein Lebensgefühl, sie drücken es aus; der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Dies muß man im Auge haben, wenn man die Versuche der Gegenwart betrachtet, aus der Moderne herauszutreten, um mit neuen Formen alte Wohnfiguren herzustellen. Der postmoderne Elan, der binnen weniger Jahre das Wollen der Nachkriegszeit in sein Gegenteil verkehrt hat, will zurück zu jener Stadt, deren Straßen und Plätze Orte des Lebens sind.

    Die Vokabel von der menschlichen Stadt, die heute Politiker, Stadtplaner und Grüne gleichermaßen verwenden, wenn sie ihre Hoffnungen beschreiben, hat jenen Begriff besetzt, der das Losungswort der Neuerer von 1920 war. Wieder einmal zeigt sich, daß die Sache hat, wer über das Wort verfügt; man muß sich in den Besitz der Terminologie bringen, wenn man das Bestehende verändern will. Auch dies meint Hegels Satz: Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.

    Aufs neue ist die Stadt ihren Bewohnern Moloch; gestern waren damit die Hinterhof-Viertel gemeint, heute die Hochhaus-Siedlungen am Stadtrand. Eben erst wurden die innerstädtischen Quartiere des Wilhelminischen Zeitalters abgerissen, jetzt zieht sich das Leben aus jenen Städten zurück, die Verheißung für die Zukunft sein wollten. Die Sehnsucht von heute gilt der italienischen Piazza und dem englischen Square, und es ist kein Zufall, daß man vor den Reißbrettern der Jungen häufig die Empfindung hat, an bekannte Orte versetzt zu werden, was den neuen Anlagen mitunter einen Anstrich von Capri gibt.

    Tatsächlich ist es das Provinzielle, das das Metropolhafte heute überall ablöst, und das nicht nur in der Errichtung des Neuen, sondern auch in der Wiederherstellung des Alten. Man möchte die Stadt des alten Europa, aber man möchte sie ohne all das, was diese Stadt ausgemacht hat – das belebte Chaos, das unreglementierte Leben, die schmutzige Unordnung, das unansehnliche Grau.

    So führt man Schutzzonen auf, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, Oasen der Unwirklichkeit, in denen gewiesen wird, wo man zu spielen, zu kaufen und zu ruhen hat. Um das unordentliche Leben abzuwehren, werden dann Blumenkübel auf die Straße gestellt, die dem unerwünschten Verkehr den Charakter einer Schnitzeljagd geben. Staatlich geprüftes Gestänge hält die Kinder an, am vorgeschriebenen Orte zu hangeln, während das Trottoir, wo man gestern Pflasterhüpfen machte und Murmeln spielte, durch Mosaikgirlanden in einen Kurpark verwandelt wird.

    Es ist diese Verniedlichung des Urbanen, die bereits manchen Stadtteilen den Anstrich eines Kinderzimmers gibt. Lustige Skulpturen sollen Heiterkeit verbreiten, und Hausbemalungen, die man früher nur an verschwiegenem Orte sah, machen darauf aufmerksam, daß man sich gemütlich fühlen kann – eine Verkindlichung, die sich ja auch in der Sprache der Werbeindustrie bemerkbar macht, die die Produkte des Alltags Infantilen oder Senilen anzubieten scheint.

    Es sind dies Erscheinungen, die die Kärntner Straße in Wien ebenso prägen wie all die anderen Fußgängerstraßen und Spielbereiche zwischen Nordsee und Alpen. Das Leben, für das man all diese Zurichtungen unternimmt, wird seiner Unordentlichkeit wegen ausgeschlossen, und verwundert sieht man im nachhinein, daß jene Altersheime am begehrtesten sind, die sich dem Treiben der Stadt zuwenden; die preisgekrönten Spielgerätschaften sind ungenutzt, während der Bürgersteig vom Lärm der Kinder erfüllt ist. In dieser Hinsicht ist der staatlich konzessionierte Abenteuerspielplatz gegen den Geist des Lebens wie gegen den der Stadt, die auf neue Weise Anstalten macht, sich selber zu entfliehen.

    So sieht das Ende einer Epoche, die mit so großem Überschwang begann, eine neue Art der Stadtverweigerung. Allerdings bleibt fraglich, ob die Irrtümer der Planer nicht die Wahrheiten des Zeitgeistes sind; denn die Stadt der Belle Epoque ist nicht mehr, und keine Anstrengung holt sie zurück. Auf immer neue Weise hat sich das Jahrhundert der Stadt zu nähern gesucht – in den Entwürfen silberner Türme, den Bildern begrünter Vororte und den Idealen entkernter Zentren. Aber der Städter ist nicht mehr da, der bis in die Nachtstunden hinein flanierte und die Promenaden nicht trotz, sondern wegen ihrer lärmerfüllten Undurchdringlichkeit liebte.

    Die postmoderne Anstrengung stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will. Denn sie ist längst hinter dem Horizont versunken, und Ordnungen ganz anderer Art ziehen herauf. Vielleicht ist deren hervorstechendstes Merkmal nicht so sehr die Sozialisierung im Ökonomischen als die Planierung im Geistigen und Seelischen.

    Wo die gleichen Artikel gekauft und dieselben Stücke besichtigt werden, hat der Boulevard sein Recht verloren, und die Filmtheater machen mit Grund den Ladenketten Platz. Wenn die Söhne und Töchter im Rollkragenpullover zur Premiere gehen, zieht der Jeansshop legitimerweise auf die Champs-Elysees.

    Wer die Egalisierung wollte, darf sich über die Nivellierung nicht beklagen, die deren Preis war. Die Wiederherstellung des Staates darf nicht vergessen machen, daß dessen Gesellschaft nicht zurückgekommen ist. Wer den Untergang des alten Europa auch in seiner gebauten Form beklagt, muß im Auge behalten, daß dieses sich selber abschaffte. Die wirklichen plebejischen Prozesse finden ja nicht in den Vorstädten der Arbeiter, sondern in den Köpfen der Bürger statt. Dies sind aber die einzigen Revolutionen, die keine Restauration rückgängig machen kann, und insofern spiegelt die künstliche Idylle vor den abgeräumten Kulissen von einst tatsächlich die Abkehr der Stadt von sich selbst.

    In diesem Sinne ist nicht die postmoderne Palastarchitektur der Ausdruck des Klimas dieser Jahre, sondern jene Berliner Autobahn-Überbauung, deren Hofraum nichts als ein System von Kletterstangen, Rutschen, Wippen und Barren birgt – wo Draußen und Drinnen sich gleichermaßen abkapseln von der städtischen Wirklichkeit.

    Wolf Jobst Siedler

    https://www.spiegel.de/kultur/vom-boulevard-zur-spielstrasse-a-5b241730-0002-0001-0000-000013511590

  • Durchsonnte Sünden

    STÄDTEBAU

    Durchsonnte Sünden

    02.06.1964, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 23/1964

    Die Amerikanerin »könnte schreien«. Die Engländerin »könnte verzweifeln«. Die Schwedin stöhnt: »Ich sterbe vor Langeweile.« Und die deutsche Hausfrau fühlt sich »so krank und so müde«.

    Die Seufzer, formuliert in »Time«, »Observer«, »Stockholms-Tidningen« und der Hamburger »Welt«, spiegeln die Unlustgefühle gelangweilter, deprimierter, verzweifelter, vereinsamter Frauen wider, die in den idyllischen Vororten und Trabantensiedlungen westlicher Großstädte wohnen.

    Sie sind symptomatisch für eine Entwicklung, die von den Wohnplanern in Stockholm, Hamburg und London ebenso wie in Los Angeles betroffen registriert wird: Was über Jahrzehnte hin als zukunftsträchtige Stadtbauweise angepriesen und verwirklicht wurde, droht die Zukunft der Städte zu verbauen – die Städte sterben an ihrer Sanierung.

    Traumsiedlungen werden zum Alptraum, Reform-Häuser erweisen sich als reformbedürftig. Und die Stadtbürger, die einst begierig die »Flucht in die Natur« antraten, dringen aus den durchgrünten Vorstadt-Wüsten in das steinerne Meer der Stadt zurück.

    Die Frauen sind es »leid, immer wieder nur dieselben Gesichter zu sehen« (“Time”). Sie sind des Wohnkomforts in ländlichen Isolier-Stationen überdrüssig. Sie wollen nicht länger nur das Haus und die Kinder hüten und allenfalls zwischen Einkaufszentrum und Waschmaschine pendeln. Sie wollen auch »was erleben« und »was sehen«.

    Denn daß der Mensch sich nicht allein nach Licht, Luft und Sonne, sondern auch nach anderen Menschen und nach Abwechslung sehnt, erkannten die modernen Städtebauer ebenso spät wie ihre Opfer – zu spät.

    Tatsächlich werden selbst in der als vorbildlich gerühmten Stockholmer Schlafstadt Vällingby gelangweilte Ehefrauen zunehmend vom »Trabanten -Koller« befallen. Mit dem Kontaktmangel wächst die Zahl der Frauen, die psychiatrischer Behandlung bedürfen.

    Auch in den neuen englischen Muster -Siedlungen ist die Misere statistisch erfaßbar. In Londons Trabantenstädten Crawley und Harlow beispielsweise wird die Selbstmord-Quote dreimal so hoch beziffert wie in den Arbeiterquartieren britischer Hafenstädte. Die Zahl zerrütteter Ehen steigtAmerika hat es nicht besser. US -Ärzte diagnostizieren in den Vororten der Großstädte (“Suburbs”) seit geraumer Zeit eine neuartige Krankheit: die Suburbia-Neurose. Kopf- und Kreuzschmerzen, Depressionen, Leistungsschwäche und Angstzustände sind ihre Symptome, in krassen Fällen auch Sexualstörungen, Herz- und Gefäßleiden und Neigung zu Fehlgeburten.

    Amerikanische Statistiker wiesen nach, daß in den Wohnvororten Alkoholismus und Kriminalität etwa in gleichem Maße zunehmen, wie das Interesse am kulturellen Leben und am politischen Geschehen nachläßt.

    Während somit die größte Völkerwanderung des Jahrhunderts (Motto: »Zurück zur Natur”) plötzlich als fundamentale Verirrung erscheint – von Planern betrieben und von Regierungen unterstützt -, werden weiterhin Tag für Tag mehrere tausend Hektar Europas und Amerikas durch Bulldozer aufgerissen und mit Vororten besprenkelt. Wälder und Farmland werden Autobahnen und Parkplätzen geopfert, und in die Reste unzerstörter Landschaft ergießt sich ein dünner Siedlungsbrei.

    In welchem Maße die Städte ausfransten, spiegelt sich in den Bevölkerungsziffern der »Umlandzonen« großer Städte, der Wohngebiete außerhalb der ursprünglichen Stadtgemarkung. Zwischen den Jahren 1939 und 1961 hat sich die Wohnbevölkerung in den Umlandzonen fast aller deutschen Großstädte annähernd verdoppelt. Sie wuchs

    – in Hamburg von 87 271 auf 194 476,

    – in München von 68 545 auf 156 340,

    – in Stuttgart von 215 121 auf 447 186,

    – in Frankfurt von 208 223 auf 367 200,

    – in Köln von 109 427 auf 198 680.

    Und die Stadtplaner von Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und Köln mußten verzeichnen, daß in einem 20 Kilometer breiten Siedlungsgürtel rings um ihre Städte rund doppelt so viele Menschen wohnen wie innerhalb der Stadtgrenzen.

    Dieser diffuse Siedlungsbrei, der fahrstundenweit über die Stadtränder hinausschwappt, ist das Resultat einer städtebaulichen Entwicklung, die um die Jahrhundertwende begann und noch andauert.

    Als die Sozialreformer soziale Mißstände in Mietskasernen und Hinterhöfen anprangerten, propagierte im Jahre 1898 der englische Hofjournalist Ebenezer Howard als Heilmittel gegen die Übervölkerung der Städte »Garden Cities« – durchgrünte Siedlungen, eingebettet in den Landschaftsgürtel rund um die Stadt.

    Doch es vergingen noch Jahrzehnte, bis Architekten und Städteplaner Howards Ideen zum Programm erklärten. Unter der Ägide des französischen Star-Architekten Le Corbusier formulierte 1933 die internationale Architekten-Organisation (“Congrès Internationaux d’Architecture Moderne”) auf einer sommerlichen Dampferfahrt zwischen Marseille und Athen – die »Charta von Athen«. Forderung: streng funktionelle Zoneneinteilung der Städte in »Wohnen, Arbeiten, Erholen, Verkehr«. Grüngürtel sollten die Zonen voneinander trennen.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die in der Charta niedergelegten Vorschläge in der gesamten westlichen Welt zum Dogma fortschrittlicher Städteplanung.

    Und allenthalben begannen die Stadtplaner die Großstädte zu entballen. »In einer historisch einmaligen levée en masse«, so umschrieb es die »Zeit«, »wurde Hunderttausenden von Pflastertretern der Rasenmäher in die Hand gedrückt.« Die Städter emigrierten in die Landschaft.

    Doch die »Entballungsmaßnahmen in Stadtzentren«, so der Berliner Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, erwiesen sich als »Sünden wider den Geist der städtischen Zivilisation«.

    Die Stadt-Chirurgen haben die Großstadt entkernt, entballt, verdünnt, durchgrünt, besonnt, durchlüftet und ausgelichtet, sie haben sie staub- und lärmfrei gemacht und familien- und verkehrsgerecht hergerichtet – bis kaum noch etwas von ihr übrig war.

    Der berechtigte Protest gegen die Mietskasernen und lichtlosen Hinterhöfe der Gründerzeit mündete in den Siedlerhaus- und Eigenheim-Fanatismus der dreißiger und fünfziger Jahre. Doch statt in der erhofften schönen neuen Welt im Grünen fanden die Städter sich im konturlosen Einerlei der Suburbia, in einer Vorstadt, der die Mitte fehlte.

    Die Stadtzentren aber, die Citys – einst mit Tanzdielen und Theatern, Kneipen und Kirchen pulsierendes Herzstück des Gemeinwesens -, drohen allabendlich in trägem Büroschlaf zu erstarren. So registrierte unlängst die Hamburger »Welt« die »abendliche Verödung« der hanseatischen Kontor-City: »Der einsame City-Wanderer fühlt sich an Kafka erinnert, wenn sein Schritt ein hohles Echo hervorruft.« Die größte Stadt Westdeutschlands sei abends nach acht Uhr »fast so etwas wie eine Geisterstadt«.

    Und in der Londoner City begegnete der amerikanische Architektur-Kritiker Lewis Mumford bei Nacht »allenfalls noch Ratten und Nachtwächtern«.

    Portiers sind in den meisten Großstädten tatsächlich fast die einzigen, die während der Nacht die Stadtzentren beleben. Das Heer der Arbeitnehmer, die tagsüber die City bevölkern, strebt nach Büroschluß in die Wohnzonen zurück.

    – München: Seit 1950 nahm die Wohnbevölkerung im Zentrum um 38 Prozent ab, im gleichen Zeitraum wuchs sie im Umland um 116 Prozent. In der engsten Münchner City (Stadtbezirk Nummer IV) wurden im letzten Jahr 38 300 Beschäftigte gezählt, aber nur 1300 Münchner wohnten dort.

    – Hannover: In der City befinden sich 20 Prozent aller Arbeitsplätze, aber nur fünf Prozent der Hannoveraner wohnen dort.

    – Hamburg: In der City sind 200 000 Menschen beschäftigt. Im selben City-Bereich wohnen nur 20 000 Hamburger.

    Noch ist das Ende der Zersiedlung – zumindest in der Bundesrepublik – nicht abzusehen. Allein in der Städte -Landschaft zwischen Rhein und Ruhr, der größten Häuser-Ansammlung des europäischen Kontinents, sind weitere 14 Trabantenstädte und Stadtneubildungen in der Planung oder schon im Bau.

    Die deutsche Bauausstellung (“Deubau 64″), die am Donnerstag dieser Woche in Essen eröffnet wird (General -Thema: »Die Bauaufgaben der Zukunft”), zeigt unter anderem Zeichnungen und Modelle der geplanten Trabanten-Siedlungen Hochdahl und Garath (bei Düsseldorf), Wulfen (nördlich Marl), Monheim (zwischen Düsseldorf und Köln) und der bereits wachsenden neuen Stadt Köln-Nord.

    Noch immer ist das auf winziger Parzelle errichtete Einfamilien- oder Reihenhaus die Norm staatlich geplanten und von öffentlicher Hand geförderten Wohnungsbaus. Bundesminister Paul Lücke hält nach wie vor den Bau von Familien-Eigenheimen für eine besonders geeignete Form der Eigentumsbildung breiter sozialer Schichten.

    Und der greise Städtebauer Professor Ernst May, der Bremens Mustersiedlung »Neue Vahr« entwarf, plädiert auch jetzt noch für die steinernen Trabanten. Er will »Stadtteile entwickeln, die vollständig selbstgenügsam sind«. Darin hätten die Menschen »alles, was sie brauchen«.

    Daß die nach Suburbia Verbannten nicht haben, was sie brauchen, wissen und sagen ketzerische Architekten schon seit geraumer Zeit.

    Bereits 1951, beim achten Internationalen Kongreß der Architekten, wurde erster Tadel an den Dogmen der 18 Jahre zuvor verfaßten Charta von Athen laut. Fünf Jahre später meldete sich der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch mit einer Kritik an den Wohnvororten (“Gettos nach Einkommensklassen”) und einem Plädoyer für die »alte Stadt« zu Wort, in der er »sich der Vielfalt des Lebens näher fühlt« als in den sterilisierten Heim-Ketten moderner Suburbs.

    Aber erst Anfang dieses Jahrzehnts vereinigten sich die Stimmen der Kritiker zu einem Chor des Protests. Architekten und, Ärzte, Soziologen und Publizisten forderten ein Umdenken der Städteplaner: Nicht die Städte, sondern die überholten Vorstellungen von Stadtsanierung müßten saniert werden.

    Die 48jährige New Yorker Journalistin Jane Jacobs-veröffentlichte 1961 ein aufsehenerregendes Buch mit dem Titel »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«, das unlängst auch in deutscher Übersetzung erschien*.

    In ihrer Streitschrift präsentiert sie ein besonders sinnfälliges Beispiel für eine uferlos sich in die Landschaft ausbreitende Stadt: Los Angeles.

    Die steinerne Wüste an der Westküste der Vereinigten Staaten überwuchert mittlerweile eine Fläche von rund 10 500 Quadratkilometern – ein Areal, in dem Groß-Hamburg 14mal Platz hätte.

    Max Frisch nannte sie »eine Verkehrsanlage, die nie eine Stadt wird«. Man habe in Los Angeles stets das irritierende Gefühl, die Stadt verfehlt zu haben, daran vorbeigefahren zu sein: »Man ist nie mitten drin, denn es hat keine Mitte.«

    Das gestaltlose Gewirr von Straßen, Vorgärten, Tankstellen, Einfamilienhäusern und Garagen läßt das Sechs-Millionen-Anwesen als einen einzigen Vorort erscheinen. Und am Beispiel dieser Super-Suburb zeigt Jane Jacobs zudem auf, daß die Ausdünnung einer Stadt

    – entgegen den Erwartungen der Stadtplaner – den Verbrechen geradezu Vorschub leistet. Jacobs: »Die Kriminalität in Los Angeles ist haarsträubend.«

    Die Quote für schwere Überfälle beispielsweise ist doppelt so hoch wie in New York oder Chicago (Los Angeles: jährlich 185 Überfälle je 100 000 Einwohner; New York: 90,9; Chicago: 79). Und Notzuchtverbrechen sind in Los Angeles sogar mehr als dreimal so häufig wie in anderen US-Metropolen (Notzucht-Quote für Los Angeles: 31,9; Chicago: 10,1; New York: 7,4).

    Die Soziologen wissen einen überraschenden Grund für die höhere Kriminalität in den Park-Städten: In den engen Wohnblocks alter Städte fühlte sich jeder von seinen Nachbarn beobachtet – eine kommunale Selbstkontrolle, die in den weitgestreuten und durchgrünten Vororten, Siedlungen und Trabantenstädten kaum möglich ist.

    »Ich wohne in einer hübschen, ruhigen Wohngegend«, berichtet eine Amerikanerin in dem Buch von Jane Jacobs. »Das einzig störende Geräusch nachts ist gelegentlich der Schrei von jemandem, der gerade überfallen wird.«

    Inder Bundesrepublik erschien jüngst ein bebildertes Pendant zu der kritischen Untersuchung der Amerikanerin. War für Jane Jacobs der »unbekömmliche Haferschleim« lebloser Suburbs Gegenstand der Kritik, so attackieren der Westberliner Publizist Wolf Jobst Siedler und die Photographin Elisabeth Niggemeyer die architektonische Sterilität der Behausungen, in denen Städter heute leben müssen.

    Sie stellen wilhelminische Stuck-Portale den modernistisch-eintönigen Rasterfassaden gegenüber, vergleichen lebensvolle Boulevards mit menschenleeren Schnellstraßen, Kolonialwarengeschäfte mit Selbstbedienungszentren, milieuträchtige Hinterhöfe mit den sanierten Rasenflächen an der Rückfront moderner Mietshäuser, wo Kinder als »Spielbeamte« an vorfabrizierten Klettergerüsten hangeln sollen. Resümee der Autoren und Titel des Text- und Bildbandes: »Die gemordete Stadt”*.

    Den Vorwurf der Kritiker gegen die Reißbrettplanung städtischen Lebens und gegen den Eigenheim-Fanatismus moderner Städtebauer griff eine junge Architektengeneration auf, um die »zweite städtebauliche Revolution« auszurufen (so das Fachblatt »Bauwelt”).

    Die Revolutionäre (“Internationale der Urbaniten”) fordern die Abkehr von den Dogmen der Charta von Athen. Sie wollen die einst mit Fleiß entballten Zonen – Wohnung, Geschäft, Industrie und Vergnügen – wieder verflechten.

    Sie postulieren eine »neue Dichte«, Mischung und Mannigfaltigkeit städtischen Lebens, um die Beziehungen zwischen Menschen wiederherzustellen. Die entballten Städte sollen »reurbanisiert« werden. Nach den Vorstellungen der Stadterneuerer sollen

    – Familien aller sozialen Schichten wieder in die City ziehen;

    – Restaurants, Läden, Bierkneipen und Festhallen die Bürger aller Wohngegenden wieder zum Feierabendtreffen ins Stadtzentrum einladen;

    – die Straßen wieder so vielfältig mit Leben erfüllt werden, daß Menschen sich aus dem Fenster lehnen oder in der Haustür stehen wollen;

    – die Kinder wieder von den organisierten Spielplätzen erlöst und auf den natürlichen Spielplatz der Großstadtkinder – den Bürgersteig – gelassen werden;

    – Häuser alten und neuen Baustils wieder regellos nebeneinander stehen. Ein »Mindestmaß an Unordnung im städtischen Gefüge« forderte der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt. Und der Westberliner Senatsbaudirektor Werner Düttmann erläuterte mit einem Paradoxon: »Eine Stadt funktioniert erst, wenn sie mal ein paar Stunden nicht funktioniert!«

    Ein Beispiel für die ideale Durchmischung und Mannigfaltigkeit, wie die City-Reformer sie verwirklicht sehen möchten, ist etwa die Berliner Flanier -Straße Kurfürstendamm: Die Traumstraße zwischen Gedächtniskirche und Halensee ist nicht nur von Läden, Boulevard-Cafés, Büros und vielerlei Vergnügungsstätten, sondern auch von Wohnbehausungen gesäumt – und widerspricht mithin den Ordnungsvorstellungen herkömmlicher Städteplanung.

    Was die Wiederbelebung der nachttoten Citys anlangt, so empfahl der Westberliner Planungs-Chef Düttmann: »Mehrere deutsche Städte gehören eigentlich eingemauert, damit sie in ihrem Innern erst mal aufräumen und nicht das Land überwuchern.«

    Die Städtebauplaner in Stockholm haben mit dem Aufräumen schon angefangen. In ihrer City errichten sie ein zentrales Hochhausviertel, das Wohnungen, Lokale, Ladenstraßen, Tiefgaragen, U-Bahn-Stationen und Vergnügungszentren in einem geschlossenen Komplex zusammenballt.

    Die deutschen Planer gedenken vorerst noch bei theoretischen Erörterungen zu bleiben. In Westberlin entsteht derzeit ein »Institut für Urbanistik«, dessen Zweck Berlins Bau-Planer Düttmann so umreißt: »Um mal dahinterzukommen – wie verhalten sich die Fakten?«

    Und der Hamburger Bürgermeister Dr. Paul Nevermann, der jüngst mit der Devise »Keep your town together!« (“Haltet eure Stadt zusammen!”) von einer USA-Visite heimkehrte, plant eine Umfrage unter Hamburger Bürgern, »ob sie lieber draußen oder drinnen wohnen wollen«.

    * Jane Jacobs: »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«. Verlag Ullstein, Berlin; 224 Seiten; 0,80 Mark.

    * Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angreß: »Die gemordete Stadt«. F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Berlin; 192 Seiten; 19,80 Mark.

    aus:
    https://www.spiegel.de/kultur/durchsonnte-suenden-a-b0b51e50-0002-0001-0000-000046174700