Vom Boulevard zur Spielstraße


Wolf Jobst Siedler über das Ende der bürgerlichen Stadt Der Verleger, Essayist und Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, 59, erregte 1964 mit seinem architekturkritischen Buch »Die gemordete Stadt« Aufsehen. Ende April erscheint als Fortschreibung des Themas das Buch »Die gemütliche Stadt«. *

31.03.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 14/1985

Je weiter sich das Jahrhundert seinem Ende nähert, desto zweifelhafter wird es, ob es nicht das vergangene war, das als das eigentlich städtische in die Geschichte eingehen wird. Damit ist nicht die Massenhaftigkeit der zivilisatorischen Gehäuse gemeint; in diesem Betracht hat die Epoche ein weiteres Wachstum der Ballungen gebracht, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Vielmehr wuchern die steinernen Agglomerationen ins Maßlose, sprengen im Falle von London und Paris die Zehn-Millionen-Grenze, greifen in der Dritten Welt ins nicht mehr Faßbare aus. Längst haben Mexico-Stadt und Kairo mehr Einwohner, als sie das siegreiche Preußen nach den napoleonischen Kriegen besaß oder das Mutterland jenes Empire, das große Teile der Welt beherrschte.

In diesem Sinne zieht die städtische Massenzivilisation unaufhaltsam herauf und bringt das zum Ende, was als Gegensatz von Land und Stadt so lange die Geschichte akzentuiert hat. Diese Verstädterung der Welt war der Schrecken der faschistischen Revolte, die in so vieler Hinsicht eine Protestbewegung war, und das Festhalten-Wollen des Alten stand ja auch hinter der Modernität der deutschen Gewaltherrschaft, die die Dinge so ungeheuer beschleunigte, indem sie die Zeit anzuhalten suchte. Hitlers Versicherung, er werde die Verwandlung ganz Deutschlands in ein einziges Ruhrgebiet »mit ein bißchen Landschaft zwischendurch« verhindern, macht die Stimmungen deutlich, denen er antwortete und die er radikalisierte.

Der Rückgriff des Regimes auf Uraltes, das strohgedeckte Bauernhaus, das durch eine Senkung der Brandprämie gefördert wurde, die Ordensburg, deren Quaderwelt sich selbst die Schinderstätten des Regimes in Mauthausen anglichen, das romantische Verbot oberirdischer Elektrizitätsleitungen in den geplanten Wehrbauern-Siedlungen des eroberten Ostens – in solchen Rückwendungen wird deutlich, auf welche Affekte die erste technisch instrumentierte Diktatur zurückging.

Diese Utopien der Modernitätsverweigerung waren die Replik auf die Utopien der Moderne. Die Entwürfe der Zukunft, die seit der Jahrhundertwende die Herzen und Hirne der Avantgarde bewegten und sich in den Phantasmagorien der Architekten ebenso ausdrückten wie in den Träumen der Expressionisten, wollten die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium der Technik, das auf die Natur nicht mehr angewiesen ist.

In der Imagination von schwimmenden Städten, Siedlungen auf dem Grund des Meeres und gläsernen Überdachungen der Alpen mischen sich höchste Rationalität mit verträumtester Poesie. Dem entsprechen die gezeichneten Hochhaus-Reihungen, zwischen denen sich in Röhren der Verkehr bewegt, wobei gestaffelte Ebenen dafür sorgen, daß sich die verschiedenen Fortbewegungsarten nicht begegnen. Das sind nicht geisterhafte Welten, wie sie die Phantasie hervorbringt, die sich durch ungeahnte technische Möglichkeiten beflügelt sieht und den Turmbau zu Babel aus dem Mythos in die Realität holen will.

Solche Träume sind auf den ersten Blick der Gegenwurf der Stadt gegen das Land; endlich nutzt der neue Mensch die Chance, die Stadt auf ihren eigenen Begriff zu bringen. Der Lärm des Verkehrs, der Staub der Straßen, das Gift der Gase liegt tief drunten; hoch oben in gleißender Sonne sitzen leichte Geschlechter und überwinden das Gestänge, das ihre eigene Hervorbringung ist. Die Zikkurat von Babylon und die hängenden Gärten der Semiramis sollen Wahrheit werden, das Überirdische sich ins Irdische verwandeln. Das Bauen des zwanzigsten Jahrhunderts hat immer dies im Auge gehabt, wie erdbeladen sein Tun auch war.

Aber die strahlenden Gebilde am Lake Shore Drive Chicagos und die müden Großplattenbauten von Marzahn träumen sich gleicherweise aus dem heraus, was fünf Jahrtausende Stadt war und was im vergangenen Jahrhundert mit der Belle Epoque den Schmelz des Abschieds hatte – Roms Corso wie Wiens Ringstraße. Kein stockendes Gedränge mehr, kein Hin- und Herschieben der Menge, die Lust auf sich selber hat, nirgendwo mehr der großstädtische Genuß des Zweckmäßigen und Nutzlosen.

An der Neige des Jahrhunderts hat diese Welt sich selber den Rücken gekehrt, und auf einmal treten die Gartenstädte Riemerschmids, Tessenows und Schultze-Naumburgs neben die Gebirge von La Defense und vom Märkischen Viertel. Der widerstädtische Geist prägt sich nur in verschiedener Form aus, und aus dieser Perspektive steht der Erbbauernhof neben dem Wolkenturm, beide gleich fern dem Lebensgefühl des Städters. Tatsächlich fühlt er sich hier wie da verloren, während er sich einst an Londons Piccadilly und dem Rond-Point von Paris ebenso begegnete wie an der Kreuzung von Leipziger und Friedrichstraße, drei der bevölkertsten Plätze Europas von 1910.

Aber städtische Anlagen schaffen kein Lebensgefühl, sie drücken es aus; der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Dies muß man im Auge haben, wenn man die Versuche der Gegenwart betrachtet, aus der Moderne herauszutreten, um mit neuen Formen alte Wohnfiguren herzustellen. Der postmoderne Elan, der binnen weniger Jahre das Wollen der Nachkriegszeit in sein Gegenteil verkehrt hat, will zurück zu jener Stadt, deren Straßen und Plätze Orte des Lebens sind.

Die Vokabel von der menschlichen Stadt, die heute Politiker, Stadtplaner und Grüne gleichermaßen verwenden, wenn sie ihre Hoffnungen beschreiben, hat jenen Begriff besetzt, der das Losungswort der Neuerer von 1920 war. Wieder einmal zeigt sich, daß die Sache hat, wer über das Wort verfügt; man muß sich in den Besitz der Terminologie bringen, wenn man das Bestehende verändern will. Auch dies meint Hegels Satz: Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.

Aufs neue ist die Stadt ihren Bewohnern Moloch; gestern waren damit die Hinterhof-Viertel gemeint, heute die Hochhaus-Siedlungen am Stadtrand. Eben erst wurden die innerstädtischen Quartiere des Wilhelminischen Zeitalters abgerissen, jetzt zieht sich das Leben aus jenen Städten zurück, die Verheißung für die Zukunft sein wollten. Die Sehnsucht von heute gilt der italienischen Piazza und dem englischen Square, und es ist kein Zufall, daß man vor den Reißbrettern der Jungen häufig die Empfindung hat, an bekannte Orte versetzt zu werden, was den neuen Anlagen mitunter einen Anstrich von Capri gibt.

Tatsächlich ist es das Provinzielle, das das Metropolhafte heute überall ablöst, und das nicht nur in der Errichtung des Neuen, sondern auch in der Wiederherstellung des Alten. Man möchte die Stadt des alten Europa, aber man möchte sie ohne all das, was diese Stadt ausgemacht hat – das belebte Chaos, das unreglementierte Leben, die schmutzige Unordnung, das unansehnliche Grau.

So führt man Schutzzonen auf, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, Oasen der Unwirklichkeit, in denen gewiesen wird, wo man zu spielen, zu kaufen und zu ruhen hat. Um das unordentliche Leben abzuwehren, werden dann Blumenkübel auf die Straße gestellt, die dem unerwünschten Verkehr den Charakter einer Schnitzeljagd geben. Staatlich geprüftes Gestänge hält die Kinder an, am vorgeschriebenen Orte zu hangeln, während das Trottoir, wo man gestern Pflasterhüpfen machte und Murmeln spielte, durch Mosaikgirlanden in einen Kurpark verwandelt wird.

Es ist diese Verniedlichung des Urbanen, die bereits manchen Stadtteilen den Anstrich eines Kinderzimmers gibt. Lustige Skulpturen sollen Heiterkeit verbreiten, und Hausbemalungen, die man früher nur an verschwiegenem Orte sah, machen darauf aufmerksam, daß man sich gemütlich fühlen kann – eine Verkindlichung, die sich ja auch in der Sprache der Werbeindustrie bemerkbar macht, die die Produkte des Alltags Infantilen oder Senilen anzubieten scheint.

Es sind dies Erscheinungen, die die Kärntner Straße in Wien ebenso prägen wie all die anderen Fußgängerstraßen und Spielbereiche zwischen Nordsee und Alpen. Das Leben, für das man all diese Zurichtungen unternimmt, wird seiner Unordentlichkeit wegen ausgeschlossen, und verwundert sieht man im nachhinein, daß jene Altersheime am begehrtesten sind, die sich dem Treiben der Stadt zuwenden; die preisgekrönten Spielgerätschaften sind ungenutzt, während der Bürgersteig vom Lärm der Kinder erfüllt ist. In dieser Hinsicht ist der staatlich konzessionierte Abenteuerspielplatz gegen den Geist des Lebens wie gegen den der Stadt, die auf neue Weise Anstalten macht, sich selber zu entfliehen.

So sieht das Ende einer Epoche, die mit so großem Überschwang begann, eine neue Art der Stadtverweigerung. Allerdings bleibt fraglich, ob die Irrtümer der Planer nicht die Wahrheiten des Zeitgeistes sind; denn die Stadt der Belle Epoque ist nicht mehr, und keine Anstrengung holt sie zurück. Auf immer neue Weise hat sich das Jahrhundert der Stadt zu nähern gesucht – in den Entwürfen silberner Türme, den Bildern begrünter Vororte und den Idealen entkernter Zentren. Aber der Städter ist nicht mehr da, der bis in die Nachtstunden hinein flanierte und die Promenaden nicht trotz, sondern wegen ihrer lärmerfüllten Undurchdringlichkeit liebte.

Die postmoderne Anstrengung stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will. Denn sie ist längst hinter dem Horizont versunken, und Ordnungen ganz anderer Art ziehen herauf. Vielleicht ist deren hervorstechendstes Merkmal nicht so sehr die Sozialisierung im Ökonomischen als die Planierung im Geistigen und Seelischen.

Wo die gleichen Artikel gekauft und dieselben Stücke besichtigt werden, hat der Boulevard sein Recht verloren, und die Filmtheater machen mit Grund den Ladenketten Platz. Wenn die Söhne und Töchter im Rollkragenpullover zur Premiere gehen, zieht der Jeansshop legitimerweise auf die Champs-Elysees.

Wer die Egalisierung wollte, darf sich über die Nivellierung nicht beklagen, die deren Preis war. Die Wiederherstellung des Staates darf nicht vergessen machen, daß dessen Gesellschaft nicht zurückgekommen ist. Wer den Untergang des alten Europa auch in seiner gebauten Form beklagt, muß im Auge behalten, daß dieses sich selber abschaffte. Die wirklichen plebejischen Prozesse finden ja nicht in den Vorstädten der Arbeiter, sondern in den Köpfen der Bürger statt. Dies sind aber die einzigen Revolutionen, die keine Restauration rückgängig machen kann, und insofern spiegelt die künstliche Idylle vor den abgeräumten Kulissen von einst tatsächlich die Abkehr der Stadt von sich selbst.

In diesem Sinne ist nicht die postmoderne Palastarchitektur der Ausdruck des Klimas dieser Jahre, sondern jene Berliner Autobahn-Überbauung, deren Hofraum nichts als ein System von Kletterstangen, Rutschen, Wippen und Barren birgt – wo Draußen und Drinnen sich gleichermaßen abkapseln von der städtischen Wirklichkeit.

Wolf Jobst Siedler

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