elisabeth niggemeyer, fotografin, berlin

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Author: benjamin

  • Vom Boulevard zur Spielstraße

    Wolf Jobst Siedler über das Ende der bürgerlichen Stadt Der Verleger, Essayist und Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, 59, erregte 1964 mit seinem architekturkritischen Buch »Die gemordete Stadt« Aufsehen. Ende April erscheint als Fortschreibung des Themas das Buch »Die gemütliche Stadt«. *

    31.03.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 14/1985

    Je weiter sich das Jahrhundert seinem Ende nähert, desto zweifelhafter wird es, ob es nicht das vergangene war, das als das eigentlich städtische in die Geschichte eingehen wird. Damit ist nicht die Massenhaftigkeit der zivilisatorischen Gehäuse gemeint; in diesem Betracht hat die Epoche ein weiteres Wachstum der Ballungen gebracht, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Vielmehr wuchern die steinernen Agglomerationen ins Maßlose, sprengen im Falle von London und Paris die Zehn-Millionen-Grenze, greifen in der Dritten Welt ins nicht mehr Faßbare aus. Längst haben Mexico-Stadt und Kairo mehr Einwohner, als sie das siegreiche Preußen nach den napoleonischen Kriegen besaß oder das Mutterland jenes Empire, das große Teile der Welt beherrschte.

    In diesem Sinne zieht die städtische Massenzivilisation unaufhaltsam herauf und bringt das zum Ende, was als Gegensatz von Land und Stadt so lange die Geschichte akzentuiert hat. Diese Verstädterung der Welt war der Schrecken der faschistischen Revolte, die in so vieler Hinsicht eine Protestbewegung war, und das Festhalten-Wollen des Alten stand ja auch hinter der Modernität der deutschen Gewaltherrschaft, die die Dinge so ungeheuer beschleunigte, indem sie die Zeit anzuhalten suchte. Hitlers Versicherung, er werde die Verwandlung ganz Deutschlands in ein einziges Ruhrgebiet »mit ein bißchen Landschaft zwischendurch« verhindern, macht die Stimmungen deutlich, denen er antwortete und die er radikalisierte.

    Der Rückgriff des Regimes auf Uraltes, das strohgedeckte Bauernhaus, das durch eine Senkung der Brandprämie gefördert wurde, die Ordensburg, deren Quaderwelt sich selbst die Schinderstätten des Regimes in Mauthausen anglichen, das romantische Verbot oberirdischer Elektrizitätsleitungen in den geplanten Wehrbauern-Siedlungen des eroberten Ostens – in solchen Rückwendungen wird deutlich, auf welche Affekte die erste technisch instrumentierte Diktatur zurückging.

    Diese Utopien der Modernitätsverweigerung waren die Replik auf die Utopien der Moderne. Die Entwürfe der Zukunft, die seit der Jahrhundertwende die Herzen und Hirne der Avantgarde bewegten und sich in den Phantasmagorien der Architekten ebenso ausdrückten wie in den Träumen der Expressionisten, wollten die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium der Technik, das auf die Natur nicht mehr angewiesen ist.

    In der Imagination von schwimmenden Städten, Siedlungen auf dem Grund des Meeres und gläsernen Überdachungen der Alpen mischen sich höchste Rationalität mit verträumtester Poesie. Dem entsprechen die gezeichneten Hochhaus-Reihungen, zwischen denen sich in Röhren der Verkehr bewegt, wobei gestaffelte Ebenen dafür sorgen, daß sich die verschiedenen Fortbewegungsarten nicht begegnen. Das sind nicht geisterhafte Welten, wie sie die Phantasie hervorbringt, die sich durch ungeahnte technische Möglichkeiten beflügelt sieht und den Turmbau zu Babel aus dem Mythos in die Realität holen will.

    Solche Träume sind auf den ersten Blick der Gegenwurf der Stadt gegen das Land; endlich nutzt der neue Mensch die Chance, die Stadt auf ihren eigenen Begriff zu bringen. Der Lärm des Verkehrs, der Staub der Straßen, das Gift der Gase liegt tief drunten; hoch oben in gleißender Sonne sitzen leichte Geschlechter und überwinden das Gestänge, das ihre eigene Hervorbringung ist. Die Zikkurat von Babylon und die hängenden Gärten der Semiramis sollen Wahrheit werden, das Überirdische sich ins Irdische verwandeln. Das Bauen des zwanzigsten Jahrhunderts hat immer dies im Auge gehabt, wie erdbeladen sein Tun auch war.

    Aber die strahlenden Gebilde am Lake Shore Drive Chicagos und die müden Großplattenbauten von Marzahn träumen sich gleicherweise aus dem heraus, was fünf Jahrtausende Stadt war und was im vergangenen Jahrhundert mit der Belle Epoque den Schmelz des Abschieds hatte – Roms Corso wie Wiens Ringstraße. Kein stockendes Gedränge mehr, kein Hin- und Herschieben der Menge, die Lust auf sich selber hat, nirgendwo mehr der großstädtische Genuß des Zweckmäßigen und Nutzlosen.

    An der Neige des Jahrhunderts hat diese Welt sich selber den Rücken gekehrt, und auf einmal treten die Gartenstädte Riemerschmids, Tessenows und Schultze-Naumburgs neben die Gebirge von La Defense und vom Märkischen Viertel. Der widerstädtische Geist prägt sich nur in verschiedener Form aus, und aus dieser Perspektive steht der Erbbauernhof neben dem Wolkenturm, beide gleich fern dem Lebensgefühl des Städters. Tatsächlich fühlt er sich hier wie da verloren, während er sich einst an Londons Piccadilly und dem Rond-Point von Paris ebenso begegnete wie an der Kreuzung von Leipziger und Friedrichstraße, drei der bevölkertsten Plätze Europas von 1910.

    Aber städtische Anlagen schaffen kein Lebensgefühl, sie drücken es aus; der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Dies muß man im Auge haben, wenn man die Versuche der Gegenwart betrachtet, aus der Moderne herauszutreten, um mit neuen Formen alte Wohnfiguren herzustellen. Der postmoderne Elan, der binnen weniger Jahre das Wollen der Nachkriegszeit in sein Gegenteil verkehrt hat, will zurück zu jener Stadt, deren Straßen und Plätze Orte des Lebens sind.

    Die Vokabel von der menschlichen Stadt, die heute Politiker, Stadtplaner und Grüne gleichermaßen verwenden, wenn sie ihre Hoffnungen beschreiben, hat jenen Begriff besetzt, der das Losungswort der Neuerer von 1920 war. Wieder einmal zeigt sich, daß die Sache hat, wer über das Wort verfügt; man muß sich in den Besitz der Terminologie bringen, wenn man das Bestehende verändern will. Auch dies meint Hegels Satz: Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.

    Aufs neue ist die Stadt ihren Bewohnern Moloch; gestern waren damit die Hinterhof-Viertel gemeint, heute die Hochhaus-Siedlungen am Stadtrand. Eben erst wurden die innerstädtischen Quartiere des Wilhelminischen Zeitalters abgerissen, jetzt zieht sich das Leben aus jenen Städten zurück, die Verheißung für die Zukunft sein wollten. Die Sehnsucht von heute gilt der italienischen Piazza und dem englischen Square, und es ist kein Zufall, daß man vor den Reißbrettern der Jungen häufig die Empfindung hat, an bekannte Orte versetzt zu werden, was den neuen Anlagen mitunter einen Anstrich von Capri gibt.

    Tatsächlich ist es das Provinzielle, das das Metropolhafte heute überall ablöst, und das nicht nur in der Errichtung des Neuen, sondern auch in der Wiederherstellung des Alten. Man möchte die Stadt des alten Europa, aber man möchte sie ohne all das, was diese Stadt ausgemacht hat – das belebte Chaos, das unreglementierte Leben, die schmutzige Unordnung, das unansehnliche Grau.

    So führt man Schutzzonen auf, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, Oasen der Unwirklichkeit, in denen gewiesen wird, wo man zu spielen, zu kaufen und zu ruhen hat. Um das unordentliche Leben abzuwehren, werden dann Blumenkübel auf die Straße gestellt, die dem unerwünschten Verkehr den Charakter einer Schnitzeljagd geben. Staatlich geprüftes Gestänge hält die Kinder an, am vorgeschriebenen Orte zu hangeln, während das Trottoir, wo man gestern Pflasterhüpfen machte und Murmeln spielte, durch Mosaikgirlanden in einen Kurpark verwandelt wird.

    Es ist diese Verniedlichung des Urbanen, die bereits manchen Stadtteilen den Anstrich eines Kinderzimmers gibt. Lustige Skulpturen sollen Heiterkeit verbreiten, und Hausbemalungen, die man früher nur an verschwiegenem Orte sah, machen darauf aufmerksam, daß man sich gemütlich fühlen kann – eine Verkindlichung, die sich ja auch in der Sprache der Werbeindustrie bemerkbar macht, die die Produkte des Alltags Infantilen oder Senilen anzubieten scheint.

    Es sind dies Erscheinungen, die die Kärntner Straße in Wien ebenso prägen wie all die anderen Fußgängerstraßen und Spielbereiche zwischen Nordsee und Alpen. Das Leben, für das man all diese Zurichtungen unternimmt, wird seiner Unordentlichkeit wegen ausgeschlossen, und verwundert sieht man im nachhinein, daß jene Altersheime am begehrtesten sind, die sich dem Treiben der Stadt zuwenden; die preisgekrönten Spielgerätschaften sind ungenutzt, während der Bürgersteig vom Lärm der Kinder erfüllt ist. In dieser Hinsicht ist der staatlich konzessionierte Abenteuerspielplatz gegen den Geist des Lebens wie gegen den der Stadt, die auf neue Weise Anstalten macht, sich selber zu entfliehen.

    So sieht das Ende einer Epoche, die mit so großem Überschwang begann, eine neue Art der Stadtverweigerung. Allerdings bleibt fraglich, ob die Irrtümer der Planer nicht die Wahrheiten des Zeitgeistes sind; denn die Stadt der Belle Epoque ist nicht mehr, und keine Anstrengung holt sie zurück. Auf immer neue Weise hat sich das Jahrhundert der Stadt zu nähern gesucht – in den Entwürfen silberner Türme, den Bildern begrünter Vororte und den Idealen entkernter Zentren. Aber der Städter ist nicht mehr da, der bis in die Nachtstunden hinein flanierte und die Promenaden nicht trotz, sondern wegen ihrer lärmerfüllten Undurchdringlichkeit liebte.

    Die postmoderne Anstrengung stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will. Denn sie ist längst hinter dem Horizont versunken, und Ordnungen ganz anderer Art ziehen herauf. Vielleicht ist deren hervorstechendstes Merkmal nicht so sehr die Sozialisierung im Ökonomischen als die Planierung im Geistigen und Seelischen.

    Wo die gleichen Artikel gekauft und dieselben Stücke besichtigt werden, hat der Boulevard sein Recht verloren, und die Filmtheater machen mit Grund den Ladenketten Platz. Wenn die Söhne und Töchter im Rollkragenpullover zur Premiere gehen, zieht der Jeansshop legitimerweise auf die Champs-Elysees.

    Wer die Egalisierung wollte, darf sich über die Nivellierung nicht beklagen, die deren Preis war. Die Wiederherstellung des Staates darf nicht vergessen machen, daß dessen Gesellschaft nicht zurückgekommen ist. Wer den Untergang des alten Europa auch in seiner gebauten Form beklagt, muß im Auge behalten, daß dieses sich selber abschaffte. Die wirklichen plebejischen Prozesse finden ja nicht in den Vorstädten der Arbeiter, sondern in den Köpfen der Bürger statt. Dies sind aber die einzigen Revolutionen, die keine Restauration rückgängig machen kann, und insofern spiegelt die künstliche Idylle vor den abgeräumten Kulissen von einst tatsächlich die Abkehr der Stadt von sich selbst.

    In diesem Sinne ist nicht die postmoderne Palastarchitektur der Ausdruck des Klimas dieser Jahre, sondern jene Berliner Autobahn-Überbauung, deren Hofraum nichts als ein System von Kletterstangen, Rutschen, Wippen und Barren birgt – wo Draußen und Drinnen sich gleichermaßen abkapseln von der städtischen Wirklichkeit.

    Wolf Jobst Siedler

    https://www.spiegel.de/kultur/vom-boulevard-zur-spielstrasse-a-5b241730-0002-0001-0000-000013511590

  • Durchsonnte Sünden

    STÄDTEBAU

    Durchsonnte Sünden

    02.06.1964, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 23/1964

    Die Amerikanerin »könnte schreien«. Die Engländerin »könnte verzweifeln«. Die Schwedin stöhnt: »Ich sterbe vor Langeweile.« Und die deutsche Hausfrau fühlt sich »so krank und so müde«.

    Die Seufzer, formuliert in »Time«, »Observer«, »Stockholms-Tidningen« und der Hamburger »Welt«, spiegeln die Unlustgefühle gelangweilter, deprimierter, verzweifelter, vereinsamter Frauen wider, die in den idyllischen Vororten und Trabantensiedlungen westlicher Großstädte wohnen.

    Sie sind symptomatisch für eine Entwicklung, die von den Wohnplanern in Stockholm, Hamburg und London ebenso wie in Los Angeles betroffen registriert wird: Was über Jahrzehnte hin als zukunftsträchtige Stadtbauweise angepriesen und verwirklicht wurde, droht die Zukunft der Städte zu verbauen – die Städte sterben an ihrer Sanierung.

    Traumsiedlungen werden zum Alptraum, Reform-Häuser erweisen sich als reformbedürftig. Und die Stadtbürger, die einst begierig die »Flucht in die Natur« antraten, dringen aus den durchgrünten Vorstadt-Wüsten in das steinerne Meer der Stadt zurück.

    Die Frauen sind es »leid, immer wieder nur dieselben Gesichter zu sehen« (“Time”). Sie sind des Wohnkomforts in ländlichen Isolier-Stationen überdrüssig. Sie wollen nicht länger nur das Haus und die Kinder hüten und allenfalls zwischen Einkaufszentrum und Waschmaschine pendeln. Sie wollen auch »was erleben« und »was sehen«.

    Denn daß der Mensch sich nicht allein nach Licht, Luft und Sonne, sondern auch nach anderen Menschen und nach Abwechslung sehnt, erkannten die modernen Städtebauer ebenso spät wie ihre Opfer – zu spät.

    Tatsächlich werden selbst in der als vorbildlich gerühmten Stockholmer Schlafstadt Vällingby gelangweilte Ehefrauen zunehmend vom »Trabanten -Koller« befallen. Mit dem Kontaktmangel wächst die Zahl der Frauen, die psychiatrischer Behandlung bedürfen.

    Auch in den neuen englischen Muster -Siedlungen ist die Misere statistisch erfaßbar. In Londons Trabantenstädten Crawley und Harlow beispielsweise wird die Selbstmord-Quote dreimal so hoch beziffert wie in den Arbeiterquartieren britischer Hafenstädte. Die Zahl zerrütteter Ehen steigtAmerika hat es nicht besser. US -Ärzte diagnostizieren in den Vororten der Großstädte (“Suburbs”) seit geraumer Zeit eine neuartige Krankheit: die Suburbia-Neurose. Kopf- und Kreuzschmerzen, Depressionen, Leistungsschwäche und Angstzustände sind ihre Symptome, in krassen Fällen auch Sexualstörungen, Herz- und Gefäßleiden und Neigung zu Fehlgeburten.

    Amerikanische Statistiker wiesen nach, daß in den Wohnvororten Alkoholismus und Kriminalität etwa in gleichem Maße zunehmen, wie das Interesse am kulturellen Leben und am politischen Geschehen nachläßt.

    Während somit die größte Völkerwanderung des Jahrhunderts (Motto: »Zurück zur Natur”) plötzlich als fundamentale Verirrung erscheint – von Planern betrieben und von Regierungen unterstützt -, werden weiterhin Tag für Tag mehrere tausend Hektar Europas und Amerikas durch Bulldozer aufgerissen und mit Vororten besprenkelt. Wälder und Farmland werden Autobahnen und Parkplätzen geopfert, und in die Reste unzerstörter Landschaft ergießt sich ein dünner Siedlungsbrei.

    In welchem Maße die Städte ausfransten, spiegelt sich in den Bevölkerungsziffern der »Umlandzonen« großer Städte, der Wohngebiete außerhalb der ursprünglichen Stadtgemarkung. Zwischen den Jahren 1939 und 1961 hat sich die Wohnbevölkerung in den Umlandzonen fast aller deutschen Großstädte annähernd verdoppelt. Sie wuchs

    – in Hamburg von 87 271 auf 194 476,

    – in München von 68 545 auf 156 340,

    – in Stuttgart von 215 121 auf 447 186,

    – in Frankfurt von 208 223 auf 367 200,

    – in Köln von 109 427 auf 198 680.

    Und die Stadtplaner von Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und Köln mußten verzeichnen, daß in einem 20 Kilometer breiten Siedlungsgürtel rings um ihre Städte rund doppelt so viele Menschen wohnen wie innerhalb der Stadtgrenzen.

    Dieser diffuse Siedlungsbrei, der fahrstundenweit über die Stadtränder hinausschwappt, ist das Resultat einer städtebaulichen Entwicklung, die um die Jahrhundertwende begann und noch andauert.

    Als die Sozialreformer soziale Mißstände in Mietskasernen und Hinterhöfen anprangerten, propagierte im Jahre 1898 der englische Hofjournalist Ebenezer Howard als Heilmittel gegen die Übervölkerung der Städte »Garden Cities« – durchgrünte Siedlungen, eingebettet in den Landschaftsgürtel rund um die Stadt.

    Doch es vergingen noch Jahrzehnte, bis Architekten und Städteplaner Howards Ideen zum Programm erklärten. Unter der Ägide des französischen Star-Architekten Le Corbusier formulierte 1933 die internationale Architekten-Organisation (“Congrès Internationaux d’Architecture Moderne”) auf einer sommerlichen Dampferfahrt zwischen Marseille und Athen – die »Charta von Athen«. Forderung: streng funktionelle Zoneneinteilung der Städte in »Wohnen, Arbeiten, Erholen, Verkehr«. Grüngürtel sollten die Zonen voneinander trennen.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die in der Charta niedergelegten Vorschläge in der gesamten westlichen Welt zum Dogma fortschrittlicher Städteplanung.

    Und allenthalben begannen die Stadtplaner die Großstädte zu entballen. »In einer historisch einmaligen levée en masse«, so umschrieb es die »Zeit«, »wurde Hunderttausenden von Pflastertretern der Rasenmäher in die Hand gedrückt.« Die Städter emigrierten in die Landschaft.

    Doch die »Entballungsmaßnahmen in Stadtzentren«, so der Berliner Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, erwiesen sich als »Sünden wider den Geist der städtischen Zivilisation«.

    Die Stadt-Chirurgen haben die Großstadt entkernt, entballt, verdünnt, durchgrünt, besonnt, durchlüftet und ausgelichtet, sie haben sie staub- und lärmfrei gemacht und familien- und verkehrsgerecht hergerichtet – bis kaum noch etwas von ihr übrig war.

    Der berechtigte Protest gegen die Mietskasernen und lichtlosen Hinterhöfe der Gründerzeit mündete in den Siedlerhaus- und Eigenheim-Fanatismus der dreißiger und fünfziger Jahre. Doch statt in der erhofften schönen neuen Welt im Grünen fanden die Städter sich im konturlosen Einerlei der Suburbia, in einer Vorstadt, der die Mitte fehlte.

    Die Stadtzentren aber, die Citys – einst mit Tanzdielen und Theatern, Kneipen und Kirchen pulsierendes Herzstück des Gemeinwesens -, drohen allabendlich in trägem Büroschlaf zu erstarren. So registrierte unlängst die Hamburger »Welt« die »abendliche Verödung« der hanseatischen Kontor-City: »Der einsame City-Wanderer fühlt sich an Kafka erinnert, wenn sein Schritt ein hohles Echo hervorruft.« Die größte Stadt Westdeutschlands sei abends nach acht Uhr »fast so etwas wie eine Geisterstadt«.

    Und in der Londoner City begegnete der amerikanische Architektur-Kritiker Lewis Mumford bei Nacht »allenfalls noch Ratten und Nachtwächtern«.

    Portiers sind in den meisten Großstädten tatsächlich fast die einzigen, die während der Nacht die Stadtzentren beleben. Das Heer der Arbeitnehmer, die tagsüber die City bevölkern, strebt nach Büroschluß in die Wohnzonen zurück.

    – München: Seit 1950 nahm die Wohnbevölkerung im Zentrum um 38 Prozent ab, im gleichen Zeitraum wuchs sie im Umland um 116 Prozent. In der engsten Münchner City (Stadtbezirk Nummer IV) wurden im letzten Jahr 38 300 Beschäftigte gezählt, aber nur 1300 Münchner wohnten dort.

    – Hannover: In der City befinden sich 20 Prozent aller Arbeitsplätze, aber nur fünf Prozent der Hannoveraner wohnen dort.

    – Hamburg: In der City sind 200 000 Menschen beschäftigt. Im selben City-Bereich wohnen nur 20 000 Hamburger.

    Noch ist das Ende der Zersiedlung – zumindest in der Bundesrepublik – nicht abzusehen. Allein in der Städte -Landschaft zwischen Rhein und Ruhr, der größten Häuser-Ansammlung des europäischen Kontinents, sind weitere 14 Trabantenstädte und Stadtneubildungen in der Planung oder schon im Bau.

    Die deutsche Bauausstellung (“Deubau 64″), die am Donnerstag dieser Woche in Essen eröffnet wird (General -Thema: »Die Bauaufgaben der Zukunft”), zeigt unter anderem Zeichnungen und Modelle der geplanten Trabanten-Siedlungen Hochdahl und Garath (bei Düsseldorf), Wulfen (nördlich Marl), Monheim (zwischen Düsseldorf und Köln) und der bereits wachsenden neuen Stadt Köln-Nord.

    Noch immer ist das auf winziger Parzelle errichtete Einfamilien- oder Reihenhaus die Norm staatlich geplanten und von öffentlicher Hand geförderten Wohnungsbaus. Bundesminister Paul Lücke hält nach wie vor den Bau von Familien-Eigenheimen für eine besonders geeignete Form der Eigentumsbildung breiter sozialer Schichten.

    Und der greise Städtebauer Professor Ernst May, der Bremens Mustersiedlung »Neue Vahr« entwarf, plädiert auch jetzt noch für die steinernen Trabanten. Er will »Stadtteile entwickeln, die vollständig selbstgenügsam sind«. Darin hätten die Menschen »alles, was sie brauchen«.

    Daß die nach Suburbia Verbannten nicht haben, was sie brauchen, wissen und sagen ketzerische Architekten schon seit geraumer Zeit.

    Bereits 1951, beim achten Internationalen Kongreß der Architekten, wurde erster Tadel an den Dogmen der 18 Jahre zuvor verfaßten Charta von Athen laut. Fünf Jahre später meldete sich der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch mit einer Kritik an den Wohnvororten (“Gettos nach Einkommensklassen”) und einem Plädoyer für die »alte Stadt« zu Wort, in der er »sich der Vielfalt des Lebens näher fühlt« als in den sterilisierten Heim-Ketten moderner Suburbs.

    Aber erst Anfang dieses Jahrzehnts vereinigten sich die Stimmen der Kritiker zu einem Chor des Protests. Architekten und, Ärzte, Soziologen und Publizisten forderten ein Umdenken der Städteplaner: Nicht die Städte, sondern die überholten Vorstellungen von Stadtsanierung müßten saniert werden.

    Die 48jährige New Yorker Journalistin Jane Jacobs-veröffentlichte 1961 ein aufsehenerregendes Buch mit dem Titel »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«, das unlängst auch in deutscher Übersetzung erschien*.

    In ihrer Streitschrift präsentiert sie ein besonders sinnfälliges Beispiel für eine uferlos sich in die Landschaft ausbreitende Stadt: Los Angeles.

    Die steinerne Wüste an der Westküste der Vereinigten Staaten überwuchert mittlerweile eine Fläche von rund 10 500 Quadratkilometern – ein Areal, in dem Groß-Hamburg 14mal Platz hätte.

    Max Frisch nannte sie »eine Verkehrsanlage, die nie eine Stadt wird«. Man habe in Los Angeles stets das irritierende Gefühl, die Stadt verfehlt zu haben, daran vorbeigefahren zu sein: »Man ist nie mitten drin, denn es hat keine Mitte.«

    Das gestaltlose Gewirr von Straßen, Vorgärten, Tankstellen, Einfamilienhäusern und Garagen läßt das Sechs-Millionen-Anwesen als einen einzigen Vorort erscheinen. Und am Beispiel dieser Super-Suburb zeigt Jane Jacobs zudem auf, daß die Ausdünnung einer Stadt

    – entgegen den Erwartungen der Stadtplaner – den Verbrechen geradezu Vorschub leistet. Jacobs: »Die Kriminalität in Los Angeles ist haarsträubend.«

    Die Quote für schwere Überfälle beispielsweise ist doppelt so hoch wie in New York oder Chicago (Los Angeles: jährlich 185 Überfälle je 100 000 Einwohner; New York: 90,9; Chicago: 79). Und Notzuchtverbrechen sind in Los Angeles sogar mehr als dreimal so häufig wie in anderen US-Metropolen (Notzucht-Quote für Los Angeles: 31,9; Chicago: 10,1; New York: 7,4).

    Die Soziologen wissen einen überraschenden Grund für die höhere Kriminalität in den Park-Städten: In den engen Wohnblocks alter Städte fühlte sich jeder von seinen Nachbarn beobachtet – eine kommunale Selbstkontrolle, die in den weitgestreuten und durchgrünten Vororten, Siedlungen und Trabantenstädten kaum möglich ist.

    »Ich wohne in einer hübschen, ruhigen Wohngegend«, berichtet eine Amerikanerin in dem Buch von Jane Jacobs. »Das einzig störende Geräusch nachts ist gelegentlich der Schrei von jemandem, der gerade überfallen wird.«

    Inder Bundesrepublik erschien jüngst ein bebildertes Pendant zu der kritischen Untersuchung der Amerikanerin. War für Jane Jacobs der »unbekömmliche Haferschleim« lebloser Suburbs Gegenstand der Kritik, so attackieren der Westberliner Publizist Wolf Jobst Siedler und die Photographin Elisabeth Niggemeyer die architektonische Sterilität der Behausungen, in denen Städter heute leben müssen.

    Sie stellen wilhelminische Stuck-Portale den modernistisch-eintönigen Rasterfassaden gegenüber, vergleichen lebensvolle Boulevards mit menschenleeren Schnellstraßen, Kolonialwarengeschäfte mit Selbstbedienungszentren, milieuträchtige Hinterhöfe mit den sanierten Rasenflächen an der Rückfront moderner Mietshäuser, wo Kinder als »Spielbeamte« an vorfabrizierten Klettergerüsten hangeln sollen. Resümee der Autoren und Titel des Text- und Bildbandes: »Die gemordete Stadt”*.

    Den Vorwurf der Kritiker gegen die Reißbrettplanung städtischen Lebens und gegen den Eigenheim-Fanatismus moderner Städtebauer griff eine junge Architektengeneration auf, um die »zweite städtebauliche Revolution« auszurufen (so das Fachblatt »Bauwelt”).

    Die Revolutionäre (“Internationale der Urbaniten”) fordern die Abkehr von den Dogmen der Charta von Athen. Sie wollen die einst mit Fleiß entballten Zonen – Wohnung, Geschäft, Industrie und Vergnügen – wieder verflechten.

    Sie postulieren eine »neue Dichte«, Mischung und Mannigfaltigkeit städtischen Lebens, um die Beziehungen zwischen Menschen wiederherzustellen. Die entballten Städte sollen »reurbanisiert« werden. Nach den Vorstellungen der Stadterneuerer sollen

    – Familien aller sozialen Schichten wieder in die City ziehen;

    – Restaurants, Läden, Bierkneipen und Festhallen die Bürger aller Wohngegenden wieder zum Feierabendtreffen ins Stadtzentrum einladen;

    – die Straßen wieder so vielfältig mit Leben erfüllt werden, daß Menschen sich aus dem Fenster lehnen oder in der Haustür stehen wollen;

    – die Kinder wieder von den organisierten Spielplätzen erlöst und auf den natürlichen Spielplatz der Großstadtkinder – den Bürgersteig – gelassen werden;

    – Häuser alten und neuen Baustils wieder regellos nebeneinander stehen. Ein »Mindestmaß an Unordnung im städtischen Gefüge« forderte der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt. Und der Westberliner Senatsbaudirektor Werner Düttmann erläuterte mit einem Paradoxon: »Eine Stadt funktioniert erst, wenn sie mal ein paar Stunden nicht funktioniert!«

    Ein Beispiel für die ideale Durchmischung und Mannigfaltigkeit, wie die City-Reformer sie verwirklicht sehen möchten, ist etwa die Berliner Flanier -Straße Kurfürstendamm: Die Traumstraße zwischen Gedächtniskirche und Halensee ist nicht nur von Läden, Boulevard-Cafés, Büros und vielerlei Vergnügungsstätten, sondern auch von Wohnbehausungen gesäumt – und widerspricht mithin den Ordnungsvorstellungen herkömmlicher Städteplanung.

    Was die Wiederbelebung der nachttoten Citys anlangt, so empfahl der Westberliner Planungs-Chef Düttmann: »Mehrere deutsche Städte gehören eigentlich eingemauert, damit sie in ihrem Innern erst mal aufräumen und nicht das Land überwuchern.«

    Die Städtebauplaner in Stockholm haben mit dem Aufräumen schon angefangen. In ihrer City errichten sie ein zentrales Hochhausviertel, das Wohnungen, Lokale, Ladenstraßen, Tiefgaragen, U-Bahn-Stationen und Vergnügungszentren in einem geschlossenen Komplex zusammenballt.

    Die deutschen Planer gedenken vorerst noch bei theoretischen Erörterungen zu bleiben. In Westberlin entsteht derzeit ein »Institut für Urbanistik«, dessen Zweck Berlins Bau-Planer Düttmann so umreißt: »Um mal dahinterzukommen – wie verhalten sich die Fakten?«

    Und der Hamburger Bürgermeister Dr. Paul Nevermann, der jüngst mit der Devise »Keep your town together!« (“Haltet eure Stadt zusammen!”) von einer USA-Visite heimkehrte, plant eine Umfrage unter Hamburger Bürgern, »ob sie lieber draußen oder drinnen wohnen wollen«.

    * Jane Jacobs: »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«. Verlag Ullstein, Berlin; 224 Seiten; 0,80 Mark.

    * Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angreß: »Die gemordete Stadt«. F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Berlin; 192 Seiten; 19,80 Mark.

    aus:
    https://www.spiegel.de/kultur/durchsonnte-suenden-a-b0b51e50-0002-0001-0000-000046174700

  • presse/ meine familie deine familie

    presse/ meine familie deine familie
  • NEUGIER, ANFASSEN, MITMACHEN

    Hartmut von Hentig über: “Vorschulkinder” NEUGIER, ANFASSEN, MITMACHEN
    Professor Hartmut von Hentig, 44, lehrt Pädagogik an der neuen Universität Bielefeld. Er veröffentlichte unter anderem: »Systemzwang und Selbstbestimmung«.
    04.01.1970, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 1/1970

    Haben wir nicht schon zuviel Schule? Ist nicht, was sie lehrt, schon jetzt zuwenig für die viele damit verbrachte Zeit, zu langweilig, zu unerheblich, zu weit von dem Augenblick und den Lagen entfernt, in denen es nützen soll? Sind die Schüler nicht deshalb rebellisch, weil es ihnen unheimlich ist, in einem künstlich isolierten System auf unbeeinflußbare Zwecke hin abgerichtet zu werden?

    Aber nicht genug, daß die Schule immer beflissener die Motivationen der Schüler zu »machen« lernt; nicht genug, daß Ganztagsschule und programmierte Selbstinstruktion auch den letzten Spielraum aufsaugen, der innerhalb der Schulzeit bleibt; nicht genug, daß sich die formale Ausbildung für viele bis zum Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts ausdehnt — nun soll es auch noch Schule vor der Schule geben!
    Und alle sagen ja dazu. Die Eltern sagen ja und denken dabei, daß sie die Kinder auf diese Weise ein Jahr früher loswerden; die Lehrer denken an ihr Pensum; die Lerntheoretiker an die Quelle ihrer Weisheiten, die ja zu 90 Prozent an Kindern zwischen null und sechs Jahren gewonnen worden sind; der Deutsche Bildungsrat an die Chancengleichheit — nämlich daran, daß sie durch Schule verwirklicht werden muß; der konservative Studienrat auch — nämlich daran, daß sie schon lange vor seiner Schule verwirkt ist. Also eine offene Verschwörung aller Pädagogen gegen das Kind?
    Auch Leuten, die nicht von der Apo sind, könnten solche — unzeitgemäßen -Zweifel kommen, wenn sie ein Buch In die Hand bekommen, dessen erstes Kapitel die Überschrift »Anstiftung zur Vorschulerziehung« trägt und das mit Hilfe von wenig Text und 409 Photographien auf 240 Seiten Glanzpapier für nur 19,80 Mark — also offenbar in hoher Auflage -. über das Vorschuljahr an der John F. Kennedy-Schule in Berlin berichtet. »Anstiftung« zu etwas, was ohnedies nicht aufzuhalten ist, das macht verdächtig.
    Nun, das Buch »Vorschulkinder« von Nancy Hoenisch (einer amerikanischen Lehrerin an der JFK-Schule), Elisabeth Niggemeyer zugleich mit den zweifeln an den wirkungen jener heilen welt bestätigt das buch den zweifel an pädagogischen orthodoxien — an der diktatur gewisser »wissenschaftlicher« erkenntnisse, die behaupten, »mit 18 monaten tritt das kind in die erste trotzperiode ein«, »mit fünf jahren wendet es sich dem märchen zu«, »mit sechs jahren ist es schulreif”usf. das buch stiftet die eltern und lehrer zu der beobachtung an, daß vor der schule nicht alles natur ist und in der schule nicht alles schule sein muß, daß kinder hilfe brauchen und bekommen können, wenn sie etwas so »einfaches« wie erfahrung machen sollen, daß kinder sich selbst erproben müssen, bevor ihnen die überwältigende rolle von »schülern« zugemutet werden darf. schule also soll nicht einfach ein jahr früher beginnen, schule soll durch vor-schule vor allem anders werden, indem die kinder die voraussetzungen des lernens lernen: wie man aus unordnung und fremdheit ordnung und vertrautheit macht, aus unvermögen frage, aus frage experiment, aus experiment anwendbare und mitteilbare erkenntnis, aus einsamem wunsch gemeinsames handeln. das geburtstrauma läßt sich nicht vermeiden, sondern nur verwinden. das schultrauma läßt sich vermeiden, zum beispiel indem man nicht alle kinder der neuen klasse fremd aufeinander und auf fremde dinge in fremden ordnungen losläßt. in australien wird jedes kind nach seinem sechsten geburtstag eingeschult, damit es in eine schon bestehende gemeinschaft kommt.
    wer das als harmonistische abwiegelei, als abrichtung zur abrichtung verdammt, der erinnert sich nicht nur schlecht an seine eigene kindheit, an die viel zu vielen Ängste und konflikte, die selbst jene heile welt noch enthielt, der dreht vor allem das richtige verhältnis von schule und wirklichkeit um.
    die erwachsenen sollen gefälligst selber die gesellschaft ändern wenn sie ihnen irrational und inhuman vorkommt. den kindern aber sollen sie die erfahrung von der aufregenden lust der selbstbestimmung geben, von der notwendigkeit, den tücken und techniken der mitbestimmung, dem potenten instrumentarium (und dem instrumentellen charakter> der Wissenschaft, das zuversichtlich gemachte Bewußtsein von dem, was Charles S. Peirce »the wisdom of the body« genannt hat — die Weisheit unserer Sinne. Das Revolutionmachen sollten wir ihnen wenn irgend möglich zu ersparen suchen.
    Wer zu lesen versteht, der sieht hinter dieser kleinen Vor-Schule endlich wieder eine Schule des Lebens angelegt: weil sie, um auf Schule vorzubereiten, von den Ordnungen der Schule und ihrer Fächer absieht.
    Und wer dies aus den wenigen Zellen des Rezensenten nicht erkennen kann, der muß das Buch darum nicht ungeprüft kaufen: Es genügt, wenn er im Laden in den Bildern blättert. Denn eigentlich enthalten sie alles, auch Wahrheiten, die der Text nicht enthält oder leugnet. Auf den Seiten 24/25 sieht man vier Bilder von zwei Mädchen mit einer Puppe: den Besitz nicht zum Fetisch machen, also »fünf Minuten kannst du die Puppe haben, dann gibst du sie mir!« Aber auf dem Gesicht der jeweils Besitzenden ist diese Einsicht nicht angekommen; dort steht nur, wie wenig beglückend der »Besitz auf Zeit« ist.
    Wenn man alle, die mit Kindern zu tun haben, so sehen lehren könnte, wie die Photographin gesehen hat, die ältere Generation würde mit ihren vorgefaßten Vorstellungen und Forderungen die Kinder nicht mehr so gründlich Verfehlen wie in der Vergangenheit.
    Sehen können ist mindestens so wichtig wie Wissen. Ja, nur weil die Autoren dieses Buches sehen können, wissen sie auch, daß es Unsinn ist, »einem Kind unvermittelt ein Wort hinzulegen und zu sagen, das heiße Anna, einem Kind dann das Wort Anna immer wieder vorzuhalten, bis es endlich gelernt hat, daß Anna so und nicht anders aussieht, obgleich das Kind — da es eine Anna nicht kennt — das Wort nicht sonderlich interessant findet«; und daß »die gelesenen Wörter zu Zauberformeln werden … wenn Kinder lesen können, was sie gerade erfahren haben«.
    Sie wissen auch, was sie tun, wenn sie sich das Prinzip machen: »Keiner muß zuhören, wenn er nicht will; er kann zum Malen gehen oder zum Experimentieren«; oder: die Abhängigkeit des Kindes von den Erwachsenen behutsam abzubauen
    Wenn auch die Offentlichkeit so sehen lernte, sie würde die Neugier, das Anfassen und Mitmachenwollen der Kinder nicht als Störung ihrer wichtigen Tätigkeiten abwehren, sondern so viel Freude daran haben, wie die Bilder der Frau Niggemeyer beim Fleischer, beim Feuerwehrmann, bei den Marktfrauen entdeckt haben.
    Und wenn schließlich auch die Wissenschaftler dies und so sehen lernten, sie bekämen Lust dazu, ihre abstrakten Künste in die Vorgänge zurückzuverwandeln, die hier Erkenntnis und Lebenssicherheit bedeuten.
    Ich hatte das Buch zufällig auf einer Tagung über Wissenschaftsdidaktik dabei und mußte dauernd danach greifen, um mich meinen gelehrten Kollegen verständlich zu machen. Für mich ist es »das Buch des Jahres«, ein Buch, das mehr leisten kann für unsere in pädagogischen Fragen so verkrampfte Gesellschaft als alle Empfehlungen des Bildungsrates, und das eine wahrere Pädagogik vermittelt als dicke wissenschaftliche Handbücher, weil es selbst pädagogisch verfährt. Man lernt ohne Entmutigung eine Sache, die es (in Deutschland) noch nicht gibt, und das nenne ich die wahre Vorschule der Vorschule.


    aus:
    https://www.spiegel.de/kultur/neugier-anfassen-mitmachen-a-94fea31e-0002-0001-0000-000045226212

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    1964 / Der Abend ??

    1964 / FAZ

    1964 / Der Städtetag

    1964 / ??

    1964 / Tagesspiegel ?


    1985

    Die Zeit, 49/1978, Es hat sich etwas geändert, Manfred Sack

    Die Welt, 17.2.1979, Giebelhäuser fielen für Betonklötze

    Neue Zürcher Zeitung 6.7.1979, Berlin als Architektur-Laboratorium

    Baumeister 2/1979

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    Friedrich Luft, Süddeutsche Zeitung, 1.5.1955

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  • Wir waren noch einmal davongekommen

    Wir waren noch einmal davongekommen

    Wolf Jobst Siedler
    Wir waren noch einmal davongekommen
    Erinnerungen, 2004, s 451 – 462, Die “Gemordete Stadt”


  • links zur gemordeten stadt, 1964


    Sebastian Haumann ( 2018 )
    Der transatlantische Paradigmenwechsel in der Stadtplanung. Zur westeuropäischen Rezeption von Jane Jacobs’ The Death and Life of Great American Cities in den 1960er- und 1970er-Jahren,

    https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1723


  • im Garten Niklasstraße 1963 ca

  • Zur Kontextualisierung eines “Klassikers”

    Zur Kontextualisierung eines “Klassikers”

    Stephanie Warnke,
    Zur Kontextualisierung eines “Klassikers” : Wolf Jobst Siedlers und Elisabeth Niggemeyers Essay-Foto-Buch “Die gemordete Stadt.” (Aufsatz, 2011)
    Stadt & Text / Vittorio Magnago Lampugnani, Katja Frey, Eliana Perotti (Hrsg.). s. 139-152