elisabeth niggemeyer, fotografin, berlin

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Category: verordnete gemütlichkeit

  • Manfred Sack, Unwirtliche Gemütlichkeit, Die Zeit, okt1985

    Manfred Sack, Unwirtliche Gemütlichkeit, Die Zeit, okt1985

    Die Stadt verliert ihr Elixier: das Städtische – nun erst recht

    Die Zeit, 11.Oktober 1985

    Unwirtliche Gemütlichkeit

    Der „gemordeten Stadt“ zweiter Teil- mit Bildern, Dokumenten und fünf Essays / Von Manfred Sack

    Zwanzig Jahre danach haben sie nun nachgesehen, was aus der „gemordeten Stadt“ geworden ist, die sie Anfang der sechziger Jahre mit scharfem, ja seherischem Blick beobachtet und publik gemacht haben. Die drei Autoren – die Photographin Elisabeth Niggemeyer sowie die Journalistin Gina Angress und Wolf Jobst Siedler — haben damals mächtige Furore gemacht mit ihrem frechen, enthüllenden, anklagenden Buch, dessen Titel sich bald selbständig gemacht hat und ein beliebter Slogan geworden ist, unter dessen Mantel vielerlei Unmut Platz hatte.

    Die Zeit war reif dafür – und begierig darauf. Kurz bevor „Die gemordete Stadt“ erschien, hatte die Journalistin Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ beschrieben, wenig später hatte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ beklagt. Rundum: Irrtümer, enttäuschte Hoffnungen, mißverstandene Maximen, phantasieloses Denken, undifferenziertes Handeln, ästhetische Blindheit — die mißbrauchte Moderne und die vom Verkehr beherrschte Stadt waren in einem Bild des Jammers aufgegangen.

    Und jetzt? Hat sich „die gemordete Stadt“ wieder aufgerappelt? Kein Zweifel, ein bißchen. Haben die Stadtpolitiker, die Planer, die Architekten ihre Irrtümer erkannt? Gewiß, nur sind ihnen beim Korrigieren der alten Fehler neue unterlaufen. Hat die Stadt sich wenigstens wieder ein wenig schön gemacht? Und wie, scheußlich schön. Hat sich also doch erwas geändert – womöglich zum Guten gewendet?

    Da jemand den hübschen Einfall gehabt hat, dem Vorwort des neuen Buches von 1985 das des alten von 1964 voranzusetzen, bekommt man schnell die erste Antwort. Vor zwanzig Jahren meldete Wolf Jobst Siedler das „Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte“. Nun, nach dem neuen Rundgang durch dieselbe Stadt, resümiert er, eher nüchtern als resigniert: „Die Sehnsucht gilt heute dem Städtischen, und der Begriff ist zu einem Losungswort geworden, das sich alle Parteien zurufen.“ Es scheint, als empfinde die Stadt immerhin den Mangel. Jedoch gehe dabei, während er korrigiert wird, „nun noch einmal verloren, was sie uns kostbar machte – jene Atmosphäre der Metropolen, die auch einen besonderen Menschentypus hervorgebracht hatten: den Städter“.

    Das Buch über „Die gemordete Stadt“ führte einst die gräßlichen Bemühungen vor Augen, „mit neuen Mitteln“ – denen der Moderne – „alte Wohnfiguren“ zu verwirklichen. In dem neuen Buch ist zu betrachten und zu lesen, wie die Stadt der Kritik zu begegnen versuchte: mit einer offensichtlich verquälten Idyllik; in ihrer Hilflosigkeit sucht sie am liebsten Halt im Gestrigen, im Hiıstorischen, genauer in der Sentimentalität. Da sie ihren Verbesserungsvorsatz, um seiner sicher zu sein, auch zu kodifizieren versucht hat, trifft der Titel des neuen Buches das Thema sehr genau:

    Gina Angress, Elisabeth Niggemeyerer: „Die verordnete Gemütlichkeit – Der gemordeten Stadt II.Teil“, mit Essays von Wolf Jobst Siedler; Quadriga Verlag J. Severin, Berlin, 1985; 224 S., 576 Abb., Ln. 49,80 DM.

    Freilich eröffnen sich der treffliche Titel und die Essenz dieses sich etwas wirr darbietenden Buches nicht schon dem, der die Bilder betrachtet, sondern erst dem, der es liest. Denn das Besondere sind, wie beim vorangegangenen, seine drei Autoren, ihre Professionen, vor allem ihre Temperamente. Die Photos, Hunderte von Photos, sind das Fundament, selbstverständlich, das Anschauungsmaterial, faszinierend durch die scheinbar unendliche Menge ihrer abstoßenden, wunderlichen, häßlichen, possierlichen, „unglaublichen“ Sujers. Das ganze Arsenal, beinahe wörtlich: die ganze Waffenkammer ist darin ausgebreitet, aus der die Stadt ihr Exterieur zu ordnen, aber auch zu verschönern versucht. Es ist das in Wahrheit immobile Straßen-„Mobiliar“, dem zur Zeit unter dem scheinbar unverdächtigen Namen urban design in Frankfurt am Main die erste, eine ganze eigene Messe eingerichtet worden ist.

    Das Stadtinventar begreift alles in sich, was den Gebrauch der Stadt durch ihre Bewohner reguliert und reglementiert, aber eben auch schmücken, also ästhetischen Gewinn erhoffen lassen soll. Man staunt, was es zum Beispiel allein an Pollern gibt, kurze dicke Stümpfe, mächtige Kugeln, kriechende Halbkugeln, kunststoffüberzogene Pfeiler, dekorierte, der Historie nachgebildete Rohre, Absperrbügel, Gitter – Gerätschaften jedenfalls, deren wahre Qualität durch die amtliche Erläuterung formuliert wird: „fahrzeugabweisende Elemente zur Eindämmung und Verhinderung illegaler Parkvorgänge“. Lauter Pollervokabeln. Es rechnen auch übel in den wunderlichsten Formen dazu, Flaschen-Container, Mülleimer, Papierkörbe, Bänke, Straßenschilder und vieles andere.

    Nicht zuletzt gehören Laternen dazu. Schwerlich zu glauben, aber wahr: Dort zum Beispiel, wo die Hardenbergstraße in den Ernst-Reuter-Platz mündet, ließ man, um das moderne Arrangement nicht zu stören, die unmodernen „Hardenbergleuchten” verschrotten, haushohe, originell gewundene Laternen von zweifellos großstädtischem Aplomb. Nun, da Berlin sich auf seine 750-Jahr-Feier vorbereitet, wird der Kurfürstendamm damit ausgerüstet, das Stück zu 32.000 Mark nachgebaut, jedes so teuer wie ein großes Auto. Und nicht zu zählen allein die Versuche mit der „Schinkel-Leuchte“ in vielen Größen und Entstellungen. Nun steht sie sogar im Märkischen Viertel, die Moderne zu versüßen – lauter Hilfsgesuche an die Geschichte.

    Die ästhetischen Schauer fühlt man indessen nicht nur beim Betrachten der Bilder (und bei der Begegnung mit einem wilden, die Häßlichkeit und das Durcheinander der Stadt offenbar mit einem dies auch noch verstärkenden Punk-Layout, das der Qualität der Photographien arg zusetzt). Man empfindet sie vor allem bei den ausgesuchten, gescheit zusammengestellten Texten, die die Bilder pointieren und ihnen oft erst ihre ganze Zeugniskraft entlocken. Man ahnt eine diebische Lust beim Aufstöbern und beim Plazieren. Es sind Kommentare, die ihre Meinung nicht in wütenden oder höhnischen Formulierungen bekanntgeben, sondern in Tatsachen, in Zitaten aus Gesetzen, Vorschriften, Richtlinien, Proklamationen, aus schrecklich gut gemeinten Empfehlungen für die Denkmalpflege, der Stadtgestaltung, für Architektur, Begrünung – oft mächtig in die Irre gehende Hoffnungen.

    Manchmal erzählt Gina Angress, der diese Schatzgräberei in Gesetz- und Ärchivblättern zu danken ist, einfach das, was 1964 war und bis heute geschehen ist. Manchmal nennt sie auch nur Zahlen, Mengen, Preise, auch Aktionen und Katastrophen. Sie tut es in einer konsequent trockenen, vor Sachlichkeit beinahe knarrenden Sprache, in der Adjektive nur gebraucht werden, um etwas genauer zu beschreiben, nicht um etwas zu bewerten. Eben dies eröffnet dem Leser sein eigenes Abenteuer bei der Lektüre dieses Bilderbuches.

    Wolf Jobst Siedlers Essays sind darin kleine Orchideenbeete, intellektuelle Zwischenspiele, in denen der Leser versuchen darf, seine Verwirrung zu ordnen: originell gedacht und manchmal zum Widerspruch reizend, elegant geschrieben und verführerisch formuliert. Mitunter merkt man nicht gleich, dass man gar nicht gerade, sondern über raffiniert verschlungene Wege mitbewegt wird durch diese fünf Essays – und oft ganz woanders hin.

    Sie sind mit oder ohne Umschweife der lange Abgesang auf „die Moderne“ und alles das, was ihre unbegabten Exekuteure damit angerichtet haben: eine Epoche, sagt er, an ihrem Ende. „Die postmoderne Anstrengung in den Städten stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will.“ Deprimierend, dieses „in die Irre gehende Verlangen, mit dem die Stadt vergessen machen will, was die Stadt ist“, mehr noch als vor zwanzig Jahren: „Die Herrichtung von Schonbezirken, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, der Verlust allen Sinns für das Angemessene, was zu Kandelabern in Trabantenstädten und Pflanzbeeten auf dem Boulevard geführt hat, macht darauf aufmerksam, dass die Stadt heute so wenig wie gestern mit sich ins Reine kommen kann.“ Diesmal aber weist der Essayist — einsichtiger als vor zwanzig Jahren und ausdrücklicher — darauf hin, dass das Verschwinden des besonderen Menschentypus, des Städters, „aber vielleicht weniger die Schuld der Baubehörden als die der Epoche“ sei, „und so ließe sich denn sagen, dass die Irrtümer der Planer die Wahrheiten des Zeitgeistes sind“. Wer weiß, wie wir in den nächsten zwanzig Jahren mit der Stadt zurechtkommen werden.


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  • Die Zerschmückung der Städte

    Die Zerschmückung der Städte

    *

    01.12.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 49/1985

    Sie kosten Milliarden und ärgern Millionen, die häßlichen Poller aus Beton oder Stahl. Poller – als stabile Pfähle zur Befestigung von Schiffstauen waren sie erfunden worden. Nun sind sie versteinert, auch schon im Sprachbestand des Duden: »Markierungsklötze für den Straßenverkehr«.

    Im Bürodeutsch von Tiefbauämtern und Verkehrsbehörden heißen sie »fahrzeugabweisende Elemente zur Eindämmung und Verhinderung illegaler Parkvorgänge« – und in demselben Stil verschandeln sie auch die Zentren deutscher Städte. Wo immer ein Platz neu gestaltet, ein Wohngebiet abgeschottet oder ein Fußweg geschützt werden soll, rücken Baukolonnen an, um die unförmigen Stolpersteine zu installieren.

    Die Sperrklötze, wahlweise rund, als Halbkugel oder in Säulenform lieferbar (aktueller Bestseller ist der postmoderne »Aluminium-Pflock im Nostalgie-Look”), sollen, wie ein Hersteller verspricht, die »Ortskerne attraktiver und menschlicher machen«.

    Bürger hingegen, die sich an den robusten Hindernissen die Knie gestoßen oder das Autoblech verbeult haben, schimpfen über die greulichen Produkte des Beton-Zeitalters – am schlimmsten ist die Beleidigung fürs Auge.

    Die Unbeholfenheit der Behörden im Umgang mit Pilz-, Hut-, Sitz- und Bismarck-Pollern wird von Gina Angress und Elisabeth Niggemeyer in einem Bildband dokumentiert: »Die verordnete Gemütlichkeit« (Quadriga Verlag J. Severin, Berlin; 224 Seiten; 49,80 Mark). Am Beispiel Berlins belegen die Autorinnen mit einer »Fülle von Ärgerlichkeiten« die abschreckende Straßensperren-Architektur, vom sandgestrahlten Pfosten mit Stahlarmierung bis zur Blumenwanne aus Waschbeton.

    Die »aufwendige Zerschmückung ihrer Städte«, fordern die Autorinnen, sollten die Bewohner nicht einfach gedankenlos hinnehmen, sondern »abräumen lassen, worüber sie stolpern«.

    https://www.spiegel.de/kultur/die-zerschmueckung-der-staedte-a-fe2a6d7b-0002-0001-0000-000013515043

  • presse: verordnete gemütlichkeit


    Süddeutsche Zeitung Nr.194, 24.8.1985, Lore Ditzen, Scheußliche neue Schönheit

    Zitty Nr.21/1985, Die verordnete Gemütlichkeit, Der gemordeten Stadt II.Teil

    Die Zeit, 11.10.1985, Unwirtliche Gemütlichkeit, Der “gemordeten Stadt” zweiter Teil, Manfred Sack

    Sender Freies Berlin, Buchzeit, 15.10.1985, Dieter Hoffmann-Axthelm

    Süddeutsche Zeitung Nr.253, 3.11.1985, P.C.Mayer-Tasch, Die kleinen Ungeheuer


    recherche internet 2022

    Spiegel 14/1985, W.J.Siedler, Vom Boulevard zur Spielstraße

    Spiegel 49/1985, Die Zerschmückung der Städte

  • Vom Boulevard zur Spielstraße

    Wolf Jobst Siedler über das Ende der bürgerlichen Stadt Der Verleger, Essayist und Schriftsteller Wolf Jobst Siedler, 59, erregte 1964 mit seinem architekturkritischen Buch »Die gemordete Stadt« Aufsehen. Ende April erscheint als Fortschreibung des Themas das Buch »Die gemütliche Stadt«. *

    31.03.1985, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 14/1985

    Je weiter sich das Jahrhundert seinem Ende nähert, desto zweifelhafter wird es, ob es nicht das vergangene war, das als das eigentlich städtische in die Geschichte eingehen wird. Damit ist nicht die Massenhaftigkeit der zivilisatorischen Gehäuse gemeint; in diesem Betracht hat die Epoche ein weiteres Wachstum der Ballungen gebracht, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Vielmehr wuchern die steinernen Agglomerationen ins Maßlose, sprengen im Falle von London und Paris die Zehn-Millionen-Grenze, greifen in der Dritten Welt ins nicht mehr Faßbare aus. Längst haben Mexico-Stadt und Kairo mehr Einwohner, als sie das siegreiche Preußen nach den napoleonischen Kriegen besaß oder das Mutterland jenes Empire, das große Teile der Welt beherrschte.

    In diesem Sinne zieht die städtische Massenzivilisation unaufhaltsam herauf und bringt das zum Ende, was als Gegensatz von Land und Stadt so lange die Geschichte akzentuiert hat. Diese Verstädterung der Welt war der Schrecken der faschistischen Revolte, die in so vieler Hinsicht eine Protestbewegung war, und das Festhalten-Wollen des Alten stand ja auch hinter der Modernität der deutschen Gewaltherrschaft, die die Dinge so ungeheuer beschleunigte, indem sie die Zeit anzuhalten suchte. Hitlers Versicherung, er werde die Verwandlung ganz Deutschlands in ein einziges Ruhrgebiet »mit ein bißchen Landschaft zwischendurch« verhindern, macht die Stimmungen deutlich, denen er antwortete und die er radikalisierte.

    Der Rückgriff des Regimes auf Uraltes, das strohgedeckte Bauernhaus, das durch eine Senkung der Brandprämie gefördert wurde, die Ordensburg, deren Quaderwelt sich selbst die Schinderstätten des Regimes in Mauthausen anglichen, das romantische Verbot oberirdischer Elektrizitätsleitungen in den geplanten Wehrbauern-Siedlungen des eroberten Ostens – in solchen Rückwendungen wird deutlich, auf welche Affekte die erste technisch instrumentierte Diktatur zurückging.

    Diese Utopien der Modernitätsverweigerung waren die Replik auf die Utopien der Moderne. Die Entwürfe der Zukunft, die seit der Jahrhundertwende die Herzen und Hirne der Avantgarde bewegten und sich in den Phantasmagorien der Architekten ebenso ausdrückten wie in den Träumen der Expressionisten, wollten die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium der Technik, das auf die Natur nicht mehr angewiesen ist.

    In der Imagination von schwimmenden Städten, Siedlungen auf dem Grund des Meeres und gläsernen Überdachungen der Alpen mischen sich höchste Rationalität mit verträumtester Poesie. Dem entsprechen die gezeichneten Hochhaus-Reihungen, zwischen denen sich in Röhren der Verkehr bewegt, wobei gestaffelte Ebenen dafür sorgen, daß sich die verschiedenen Fortbewegungsarten nicht begegnen. Das sind nicht geisterhafte Welten, wie sie die Phantasie hervorbringt, die sich durch ungeahnte technische Möglichkeiten beflügelt sieht und den Turmbau zu Babel aus dem Mythos in die Realität holen will.

    Solche Träume sind auf den ersten Blick der Gegenwurf der Stadt gegen das Land; endlich nutzt der neue Mensch die Chance, die Stadt auf ihren eigenen Begriff zu bringen. Der Lärm des Verkehrs, der Staub der Straßen, das Gift der Gase liegt tief drunten; hoch oben in gleißender Sonne sitzen leichte Geschlechter und überwinden das Gestänge, das ihre eigene Hervorbringung ist. Die Zikkurat von Babylon und die hängenden Gärten der Semiramis sollen Wahrheit werden, das Überirdische sich ins Irdische verwandeln. Das Bauen des zwanzigsten Jahrhunderts hat immer dies im Auge gehabt, wie erdbeladen sein Tun auch war.

    Aber die strahlenden Gebilde am Lake Shore Drive Chicagos und die müden Großplattenbauten von Marzahn träumen sich gleicherweise aus dem heraus, was fünf Jahrtausende Stadt war und was im vergangenen Jahrhundert mit der Belle Epoque den Schmelz des Abschieds hatte – Roms Corso wie Wiens Ringstraße. Kein stockendes Gedränge mehr, kein Hin- und Herschieben der Menge, die Lust auf sich selber hat, nirgendwo mehr der großstädtische Genuß des Zweckmäßigen und Nutzlosen.

    An der Neige des Jahrhunderts hat diese Welt sich selber den Rücken gekehrt, und auf einmal treten die Gartenstädte Riemerschmids, Tessenows und Schultze-Naumburgs neben die Gebirge von La Defense und vom Märkischen Viertel. Der widerstädtische Geist prägt sich nur in verschiedener Form aus, und aus dieser Perspektive steht der Erbbauernhof neben dem Wolkenturm, beide gleich fern dem Lebensgefühl des Städters. Tatsächlich fühlt er sich hier wie da verloren, während er sich einst an Londons Piccadilly und dem Rond-Point von Paris ebenso begegnete wie an der Kreuzung von Leipziger und Friedrichstraße, drei der bevölkertsten Plätze Europas von 1910.

    Aber städtische Anlagen schaffen kein Lebensgefühl, sie drücken es aus; der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Dies muß man im Auge haben, wenn man die Versuche der Gegenwart betrachtet, aus der Moderne herauszutreten, um mit neuen Formen alte Wohnfiguren herzustellen. Der postmoderne Elan, der binnen weniger Jahre das Wollen der Nachkriegszeit in sein Gegenteil verkehrt hat, will zurück zu jener Stadt, deren Straßen und Plätze Orte des Lebens sind.

    Die Vokabel von der menschlichen Stadt, die heute Politiker, Stadtplaner und Grüne gleichermaßen verwenden, wenn sie ihre Hoffnungen beschreiben, hat jenen Begriff besetzt, der das Losungswort der Neuerer von 1920 war. Wieder einmal zeigt sich, daß die Sache hat, wer über das Wort verfügt; man muß sich in den Besitz der Terminologie bringen, wenn man das Bestehende verändern will. Auch dies meint Hegels Satz: Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.

    Aufs neue ist die Stadt ihren Bewohnern Moloch; gestern waren damit die Hinterhof-Viertel gemeint, heute die Hochhaus-Siedlungen am Stadtrand. Eben erst wurden die innerstädtischen Quartiere des Wilhelminischen Zeitalters abgerissen, jetzt zieht sich das Leben aus jenen Städten zurück, die Verheißung für die Zukunft sein wollten. Die Sehnsucht von heute gilt der italienischen Piazza und dem englischen Square, und es ist kein Zufall, daß man vor den Reißbrettern der Jungen häufig die Empfindung hat, an bekannte Orte versetzt zu werden, was den neuen Anlagen mitunter einen Anstrich von Capri gibt.

    Tatsächlich ist es das Provinzielle, das das Metropolhafte heute überall ablöst, und das nicht nur in der Errichtung des Neuen, sondern auch in der Wiederherstellung des Alten. Man möchte die Stadt des alten Europa, aber man möchte sie ohne all das, was diese Stadt ausgemacht hat – das belebte Chaos, das unreglementierte Leben, die schmutzige Unordnung, das unansehnliche Grau.

    So führt man Schutzzonen auf, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, Oasen der Unwirklichkeit, in denen gewiesen wird, wo man zu spielen, zu kaufen und zu ruhen hat. Um das unordentliche Leben abzuwehren, werden dann Blumenkübel auf die Straße gestellt, die dem unerwünschten Verkehr den Charakter einer Schnitzeljagd geben. Staatlich geprüftes Gestänge hält die Kinder an, am vorgeschriebenen Orte zu hangeln, während das Trottoir, wo man gestern Pflasterhüpfen machte und Murmeln spielte, durch Mosaikgirlanden in einen Kurpark verwandelt wird.

    Es ist diese Verniedlichung des Urbanen, die bereits manchen Stadtteilen den Anstrich eines Kinderzimmers gibt. Lustige Skulpturen sollen Heiterkeit verbreiten, und Hausbemalungen, die man früher nur an verschwiegenem Orte sah, machen darauf aufmerksam, daß man sich gemütlich fühlen kann – eine Verkindlichung, die sich ja auch in der Sprache der Werbeindustrie bemerkbar macht, die die Produkte des Alltags Infantilen oder Senilen anzubieten scheint.

    Es sind dies Erscheinungen, die die Kärntner Straße in Wien ebenso prägen wie all die anderen Fußgängerstraßen und Spielbereiche zwischen Nordsee und Alpen. Das Leben, für das man all diese Zurichtungen unternimmt, wird seiner Unordentlichkeit wegen ausgeschlossen, und verwundert sieht man im nachhinein, daß jene Altersheime am begehrtesten sind, die sich dem Treiben der Stadt zuwenden; die preisgekrönten Spielgerätschaften sind ungenutzt, während der Bürgersteig vom Lärm der Kinder erfüllt ist. In dieser Hinsicht ist der staatlich konzessionierte Abenteuerspielplatz gegen den Geist des Lebens wie gegen den der Stadt, die auf neue Weise Anstalten macht, sich selber zu entfliehen.

    So sieht das Ende einer Epoche, die mit so großem Überschwang begann, eine neue Art der Stadtverweigerung. Allerdings bleibt fraglich, ob die Irrtümer der Planer nicht die Wahrheiten des Zeitgeistes sind; denn die Stadt der Belle Epoque ist nicht mehr, und keine Anstrengung holt sie zurück. Auf immer neue Weise hat sich das Jahrhundert der Stadt zu nähern gesucht – in den Entwürfen silberner Türme, den Bildern begrünter Vororte und den Idealen entkernter Zentren. Aber der Städter ist nicht mehr da, der bis in die Nachtstunden hinein flanierte und die Promenaden nicht trotz, sondern wegen ihrer lärmerfüllten Undurchdringlichkeit liebte.

    Die postmoderne Anstrengung stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will. Denn sie ist längst hinter dem Horizont versunken, und Ordnungen ganz anderer Art ziehen herauf. Vielleicht ist deren hervorstechendstes Merkmal nicht so sehr die Sozialisierung im Ökonomischen als die Planierung im Geistigen und Seelischen.

    Wo die gleichen Artikel gekauft und dieselben Stücke besichtigt werden, hat der Boulevard sein Recht verloren, und die Filmtheater machen mit Grund den Ladenketten Platz. Wenn die Söhne und Töchter im Rollkragenpullover zur Premiere gehen, zieht der Jeansshop legitimerweise auf die Champs-Elysees.

    Wer die Egalisierung wollte, darf sich über die Nivellierung nicht beklagen, die deren Preis war. Die Wiederherstellung des Staates darf nicht vergessen machen, daß dessen Gesellschaft nicht zurückgekommen ist. Wer den Untergang des alten Europa auch in seiner gebauten Form beklagt, muß im Auge behalten, daß dieses sich selber abschaffte. Die wirklichen plebejischen Prozesse finden ja nicht in den Vorstädten der Arbeiter, sondern in den Köpfen der Bürger statt. Dies sind aber die einzigen Revolutionen, die keine Restauration rückgängig machen kann, und insofern spiegelt die künstliche Idylle vor den abgeräumten Kulissen von einst tatsächlich die Abkehr der Stadt von sich selbst.

    In diesem Sinne ist nicht die postmoderne Palastarchitektur der Ausdruck des Klimas dieser Jahre, sondern jene Berliner Autobahn-Überbauung, deren Hofraum nichts als ein System von Kletterstangen, Rutschen, Wippen und Barren birgt – wo Draußen und Drinnen sich gleichermaßen abkapseln von der städtischen Wirklichkeit.

    Wolf Jobst Siedler

    https://www.spiegel.de/kultur/vom-boulevard-zur-spielstrasse-a-5b241730-0002-0001-0000-000013511590

  • Seelingstr 36, 09-1985

    Manuscript der Rede von Prof. Sperlich am 5.9.1985
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