Manfred Sack, Unwirtliche Gemütlichkeit, Die Zeit, okt1985


Die Stadt verliert ihr Elixier: das Städtische – nun erst recht

Die Zeit, 11.Oktober 1985

Unwirtliche Gemütlichkeit

Der „gemordeten Stadt“ zweiter Teil- mit Bildern, Dokumenten und fünf Essays / Von Manfred Sack

Zwanzig Jahre danach haben sie nun nachgesehen, was aus der „gemordeten Stadt“ geworden ist, die sie Anfang der sechziger Jahre mit scharfem, ja seherischem Blick beobachtet und publik gemacht haben. Die drei Autoren – die Photographin Elisabeth Niggemeyer sowie die Journalistin Gina Angress und Wolf Jobst Siedler — haben damals mächtige Furore gemacht mit ihrem frechen, enthüllenden, anklagenden Buch, dessen Titel sich bald selbständig gemacht hat und ein beliebter Slogan geworden ist, unter dessen Mantel vielerlei Unmut Platz hatte.

Die Zeit war reif dafür – und begierig darauf. Kurz bevor „Die gemordete Stadt“ erschien, hatte die Journalistin Jane Jacobs „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ beschrieben, wenig später hatte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ beklagt. Rundum: Irrtümer, enttäuschte Hoffnungen, mißverstandene Maximen, phantasieloses Denken, undifferenziertes Handeln, ästhetische Blindheit — die mißbrauchte Moderne und die vom Verkehr beherrschte Stadt waren in einem Bild des Jammers aufgegangen.

Und jetzt? Hat sich „die gemordete Stadt“ wieder aufgerappelt? Kein Zweifel, ein bißchen. Haben die Stadtpolitiker, die Planer, die Architekten ihre Irrtümer erkannt? Gewiß, nur sind ihnen beim Korrigieren der alten Fehler neue unterlaufen. Hat die Stadt sich wenigstens wieder ein wenig schön gemacht? Und wie, scheußlich schön. Hat sich also doch erwas geändert – womöglich zum Guten gewendet?

Da jemand den hübschen Einfall gehabt hat, dem Vorwort des neuen Buches von 1985 das des alten von 1964 voranzusetzen, bekommt man schnell die erste Antwort. Vor zwanzig Jahren meldete Wolf Jobst Siedler das „Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte“. Nun, nach dem neuen Rundgang durch dieselbe Stadt, resümiert er, eher nüchtern als resigniert: „Die Sehnsucht gilt heute dem Städtischen, und der Begriff ist zu einem Losungswort geworden, das sich alle Parteien zurufen.“ Es scheint, als empfinde die Stadt immerhin den Mangel. Jedoch gehe dabei, während er korrigiert wird, „nun noch einmal verloren, was sie uns kostbar machte – jene Atmosphäre der Metropolen, die auch einen besonderen Menschentypus hervorgebracht hatten: den Städter“.

Das Buch über „Die gemordete Stadt“ führte einst die gräßlichen Bemühungen vor Augen, „mit neuen Mitteln“ – denen der Moderne – „alte Wohnfiguren“ zu verwirklichen. In dem neuen Buch ist zu betrachten und zu lesen, wie die Stadt der Kritik zu begegnen versuchte: mit einer offensichtlich verquälten Idyllik; in ihrer Hilflosigkeit sucht sie am liebsten Halt im Gestrigen, im Hiıstorischen, genauer in der Sentimentalität. Da sie ihren Verbesserungsvorsatz, um seiner sicher zu sein, auch zu kodifizieren versucht hat, trifft der Titel des neuen Buches das Thema sehr genau:

Gina Angress, Elisabeth Niggemeyerer: „Die verordnete Gemütlichkeit – Der gemordeten Stadt II.Teil“, mit Essays von Wolf Jobst Siedler; Quadriga Verlag J. Severin, Berlin, 1985; 224 S., 576 Abb., Ln. 49,80 DM.

Freilich eröffnen sich der treffliche Titel und die Essenz dieses sich etwas wirr darbietenden Buches nicht schon dem, der die Bilder betrachtet, sondern erst dem, der es liest. Denn das Besondere sind, wie beim vorangegangenen, seine drei Autoren, ihre Professionen, vor allem ihre Temperamente. Die Photos, Hunderte von Photos, sind das Fundament, selbstverständlich, das Anschauungsmaterial, faszinierend durch die scheinbar unendliche Menge ihrer abstoßenden, wunderlichen, häßlichen, possierlichen, „unglaublichen“ Sujers. Das ganze Arsenal, beinahe wörtlich: die ganze Waffenkammer ist darin ausgebreitet, aus der die Stadt ihr Exterieur zu ordnen, aber auch zu verschönern versucht. Es ist das in Wahrheit immobile Straßen-„Mobiliar“, dem zur Zeit unter dem scheinbar unverdächtigen Namen urban design in Frankfurt am Main die erste, eine ganze eigene Messe eingerichtet worden ist.

Das Stadtinventar begreift alles in sich, was den Gebrauch der Stadt durch ihre Bewohner reguliert und reglementiert, aber eben auch schmücken, also ästhetischen Gewinn erhoffen lassen soll. Man staunt, was es zum Beispiel allein an Pollern gibt, kurze dicke Stümpfe, mächtige Kugeln, kriechende Halbkugeln, kunststoffüberzogene Pfeiler, dekorierte, der Historie nachgebildete Rohre, Absperrbügel, Gitter – Gerätschaften jedenfalls, deren wahre Qualität durch die amtliche Erläuterung formuliert wird: „fahrzeugabweisende Elemente zur Eindämmung und Verhinderung illegaler Parkvorgänge“. Lauter Pollervokabeln. Es rechnen auch übel in den wunderlichsten Formen dazu, Flaschen-Container, Mülleimer, Papierkörbe, Bänke, Straßenschilder und vieles andere.

Nicht zuletzt gehören Laternen dazu. Schwerlich zu glauben, aber wahr: Dort zum Beispiel, wo die Hardenbergstraße in den Ernst-Reuter-Platz mündet, ließ man, um das moderne Arrangement nicht zu stören, die unmodernen „Hardenbergleuchten” verschrotten, haushohe, originell gewundene Laternen von zweifellos großstädtischem Aplomb. Nun, da Berlin sich auf seine 750-Jahr-Feier vorbereitet, wird der Kurfürstendamm damit ausgerüstet, das Stück zu 32.000 Mark nachgebaut, jedes so teuer wie ein großes Auto. Und nicht zu zählen allein die Versuche mit der „Schinkel-Leuchte“ in vielen Größen und Entstellungen. Nun steht sie sogar im Märkischen Viertel, die Moderne zu versüßen – lauter Hilfsgesuche an die Geschichte.

Die ästhetischen Schauer fühlt man indessen nicht nur beim Betrachten der Bilder (und bei der Begegnung mit einem wilden, die Häßlichkeit und das Durcheinander der Stadt offenbar mit einem dies auch noch verstärkenden Punk-Layout, das der Qualität der Photographien arg zusetzt). Man empfindet sie vor allem bei den ausgesuchten, gescheit zusammengestellten Texten, die die Bilder pointieren und ihnen oft erst ihre ganze Zeugniskraft entlocken. Man ahnt eine diebische Lust beim Aufstöbern und beim Plazieren. Es sind Kommentare, die ihre Meinung nicht in wütenden oder höhnischen Formulierungen bekanntgeben, sondern in Tatsachen, in Zitaten aus Gesetzen, Vorschriften, Richtlinien, Proklamationen, aus schrecklich gut gemeinten Empfehlungen für die Denkmalpflege, der Stadtgestaltung, für Architektur, Begrünung – oft mächtig in die Irre gehende Hoffnungen.

Manchmal erzählt Gina Angress, der diese Schatzgräberei in Gesetz- und Ärchivblättern zu danken ist, einfach das, was 1964 war und bis heute geschehen ist. Manchmal nennt sie auch nur Zahlen, Mengen, Preise, auch Aktionen und Katastrophen. Sie tut es in einer konsequent trockenen, vor Sachlichkeit beinahe knarrenden Sprache, in der Adjektive nur gebraucht werden, um etwas genauer zu beschreiben, nicht um etwas zu bewerten. Eben dies eröffnet dem Leser sein eigenes Abenteuer bei der Lektüre dieses Bilderbuches.

Wolf Jobst Siedlers Essays sind darin kleine Orchideenbeete, intellektuelle Zwischenspiele, in denen der Leser versuchen darf, seine Verwirrung zu ordnen: originell gedacht und manchmal zum Widerspruch reizend, elegant geschrieben und verführerisch formuliert. Mitunter merkt man nicht gleich, dass man gar nicht gerade, sondern über raffiniert verschlungene Wege mitbewegt wird durch diese fünf Essays – und oft ganz woanders hin.

Sie sind mit oder ohne Umschweife der lange Abgesang auf „die Moderne“ und alles das, was ihre unbegabten Exekuteure damit angerichtet haben: eine Epoche, sagt er, an ihrem Ende. „Die postmoderne Anstrengung in den Städten stellt die Bühne wieder her, aber ein anderes Stück steht auf dem Spielplan. Es ist ein hilfloses Sehnen, das mit den Requisiten auch das Szenario der bürgerlichen Welt wiedergewinnen will.“ Deprimierend, dieses „in die Irre gehende Verlangen, mit dem die Stadt vergessen machen will, was die Stadt ist“, mehr noch als vor zwanzig Jahren: „Die Herrichtung von Schonbezirken, die Kindern, Greisen und Rabatten vorbehalten sind, der Verlust allen Sinns für das Angemessene, was zu Kandelabern in Trabantenstädten und Pflanzbeeten auf dem Boulevard geführt hat, macht darauf aufmerksam, dass die Stadt heute so wenig wie gestern mit sich ins Reine kommen kann.“ Diesmal aber weist der Essayist — einsichtiger als vor zwanzig Jahren und ausdrücklicher — darauf hin, dass das Verschwinden des besonderen Menschentypus, des Städters, „aber vielleicht weniger die Schuld der Baubehörden als die der Epoche“ sei, „und so ließe sich denn sagen, dass die Irrtümer der Planer die Wahrheiten des Zeitgeistes sind“. Wer weiß, wie wir in den nächsten zwanzig Jahren mit der Stadt zurechtkommen werden.


Photokopie als pdf