DIE ZEIT Nr.49/1978

DIE ZEIT  Nr.49/1978

Zum viertenmal: Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum: Es hat sich etwas geändert | DIE ZEIT

Zum viertenmal: Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum

Es hat sich etwas geändert

Siedler/Niggemeyer/Angreß: “Die gemordete Stadt” Von Manfred Sack

Aus der ZEIT Nr.49/1978 1.Dezember1978,8:00Uhr

Von Manfred Sack

Sechs Zeitungsartikel, Ende der fünfziger Jahre im Berliner “Tagesspiegel” erschienen, schließlich zwischen zwei biegsamen Buchdeckeln versammelt, anschaulich gemacht durch thematisch gegliederte Konvolute von außerordentlich beweiskräftigen Photographien, pointiert mit ebenso mitteilsamen wie kessen Zitaten, Zahlen, Berliner Bonmots, schließlich versehen mit dem ebenso traurigen wie reißerischpolemischen Titel “Die gemordete Stadt” und 1964 als Buch herausgebracht – sie haben damals eine Menge Furore gemacht. Für unsere nicht übertrieben lesegierige Nation verliehen ihm alsbald drei Auflagen mit zusammen fünfzentausend Stück die Aura eines Bestsellers. Nun ist das Buch, nachdem es viele Jahre lange vergriffen war und, wie man hört, in Antiquariaten zu Preisen um achtzig Mark gehandelt wird, zum viertenmal neu herausgebracht worden –

Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer, Gina Angreß: “Die gemordete Stadt – Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum”; F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München, 1978; 200 S. Abb., 38,– DM.

Es war damals, mit bewundernswert prophetischer Treffsicherheit, in eine Zeit höchst aggressiver Kritik am stadtzerstörerischen Städtebau geplatzt. Wenig vorher nur war Jane Jacobs’ warnende Untersuchung über “Tod und Leben großer amerikanischer Städte” auf deutsch erschienen, in derselben Reihe, den “Bauwelt-Fundamenten”, war auch Werner Hegemanns frech geschriebene, unverhofft aktuell wirkende Städtebaugeschichte über “Das steinerne Berlin” von 1930 wieder aufgelegt worden; kurz danach kam Mitscherlichs aufwiegelndes Pamphlet über “Die Unwirtlichkeit unserer Städte” heraus. Selbst von Konrad Lorenz’ gesammelten Aufsätzen “Über tierisches und menschliches Verhalten” fühlten sich die geprügelten, nun unsicher werdenden Stadtplaner aufgerufen, etwa aus der Parallele von Graugans und Mensch Schlüsse für eine angenehmere Umwelt zu ziehen.

Drei Journalisten, ein Psychosomatiker, ein Verhaltensforscher lasen den Bauexperten die Leviten, lauter Außenseiter – der einzige Architekt in dieser Versammlung aufsässiger und aufklärerischer Autoren in der ersten Hälfte, der sechziger Jahre war der Amerikaner Kevin Lynch, der nun auch auf deutsch (“Bauwelt-Fundamente” 16) klarmachte, auf welche Weise die Stadt visuell auf den Menschen wirkt. Hinterher wälzte sich eine heute noch schäumende Flut einschlägiger kritischer und theoretischer Literatur, ohne allerdings noch so zu wirken, wie es Mitscherlich in seinem Untertitel gewünscht hatte: als “eine Anstiftung zum Unfrieden”.

“Die gemordete Stadt” war eine “Anstiftung” – man möchte eigentlich, daß sie noch eine sei. Doch es hat sich die Zeit, und es hat sich das Buch geändert. Es ist um Zwei lokalpolitisch inspirierte – und lokalpolitisch berechnete – Aufsätze vermehrt worden, es kommt steifleinen daher (weil, wie’s heißt, die Buchhändler es so wünschten), es ist etwas teurer, in der graphischen Aufmachung vergröbert. Und leider ist es viel schlechter gedruckt als seine Vorgänger: Die Bilder sind schwärzer, die zarte, ausdrucksvolle Zeichnung in den Schatten und in den Lichtern der Photos ist verschwunden, und damit auch etwas, das man den Charme oder das Poetische nennen könnte. Die früheren Büchermacher jedenfalls waren sensibler.

Wenn man dies aber beiseite läßt, und wenn man auch der mit dem zuständigen Berliner Landesminister für das Bauen und Wohnen sowie einem gewandt lobredenden Architektur-Professor

leicht überbesetzte und ein bißchen zu geschickt inszenierte Präsentation im Berlin-Museum nur die minimalste Aufmerksamkeit schenkt, bleibt die Beobachtung, daß dieses Buch beinahe so aufregend, ganz gewiß aber so gefährlich, wie ehedem geblieben ist: dies, weil es den Sentimentalen den Glauben an ihr Mißverständnis stärkt, die Stadt müsse um ihrer verloren gegangenen Geschichtlichkeit willen nun (mit freundlicher Denkmalschützer-Hilfe) nach Kräften wieder veraltet und auf Teufel komm ’raus rekonstruiert werden; das erste, weil es jetzt, beinahe zwei Jahrzehnte nach der Niederschrift, aktuell geblieben ist und weil es, ärger noch, deutlich macht, daß das Echo auf die Kritik lange braucht und oft verschwommen ankömmt und daß Umdenken sehr, sehr lange dauert.

Gleichviel, das Buch hat Wirkung gehabt – aber beileibe nicht durch den Text allein, wie gescheit und provozierend und wie (im Aufsatz über die “Welt ohne Schatten”) beneidenswert formuliert auch immer. Er entfaltet seine kritischen Kräfte überhaupt erst durch die jedesmal aufs neue belustigenden oder empörenden, jedenfalls bewegenden photographischen Beobachtungen Elisabeth Niggemeyers. Womöglich haben viele Leser die Aufsatzsammlung zuallererst als ein Bilderbuch wahrgenommen und dann (hoffentlich) auch gelesen.

Es ist wohl wahr, daß die Stadt wirklich und nachhaltig erst in den anderthalb Jahrzehnten “gemordet” worden ist, nachdem das Buch erschienen war und doch so sehr (und amüsant) davor gewarnt hatte – erstens davor, scheinbaren Sachzwängen nachzugeben und ihnen mit einer geschichts vergeßlichen Politik Plätze, Straßen, Gebäude und Atmosphäre, Milieu zu opfern, zweitens davor, der Stadt die Zeichen zu nehmen, an denen sich ihr Werden ablesen ließ.

Es ist auch richtig, daß das Buch heutzutage niemanden mehr provoziert, nur noch nachdenklich macht oder daß es, schwerlich zu verhindern, versonnener Resignation dienlich ist. Der Autor Siedler ist selber ja auch nachsichtiger, sagen wir: gerechter geworden und spricht von “einer weitgehend unvermeidbaren Tragödie ” – weil doch lauter schrecklich zerstörte Städte aus dem Stand wieder aufgebaut, das heißt: Wohnungen für die zahllosen Obdachlosen des Krieges hergestellt werden mußten, und so viel auf einmal wie vorher in Jahrhunderten.

Daß sein Buch in Wahrheit nichts (mit) bewirkt habe, ist jedoch eine allzu übertriebene Bescheidenheit. Niemals vorher war das Bewußtsein einer so großen Allgemeinheit für Ereignisse des Städte- und Wohnungsbaus und der Architektur geöffnet wie heute; niemals zuvor hat sie die eigentlichen Versager von damals, die Politiker und die Planer, die (Stadt-)Bauherrn, die kaltblütigen gemeinnützigen Planungs- und Wohnungsbau-Unternehmen, den bloß technisch oder bloß ökonomischen Verstand stutzig und empfindlich gemacht.

Nun ist es sicherlich eine zu hübsche Vorstellung, daß “die Verantwortlichen”, voran die Politiker, “Die gemordete Stadt” allesamt (nach-)läsen und ihnen klar würde, daß, wo sie, “wo die Stadtväter keinen geistigen und sozialen Begriff von ihrer Stadt haben, die Architekten ihnen, nicht zu Hilfe kommen können”. Man wünscht es sich.

Diesen Satz jedenfalls hat Wolf Jobst Siedler [https://www.zeit.de/thema/wolf-jobst-siedler] vorzüglich den “Stadtvätern” von Berlin zugedacht, wo die Arbeit an einer ziemlich umfänglichen neuen internationalen Bauausstellung Mitte der achtziger Jahre schon im Gange ist und wobei er selber eine öffentliche Rolle spielen wird: nicht als Kritiker – als der hat er sich für diese Aufgabe interessant gemacht –, auch nicht als Akteur in der Planung, sondern in der Regiekabine des Bausenators.